Ken Vandermark (2009)

FMP: (M)ein Blick von außen

“Die Dinge, die wir in diesen Jahren zu einander sagten werden nie wieder gesagt werden,
und selbst wenn sie gesagt würden, niemand könnte sie mehr verstehen.
Wir waren wie zwei zusammen angeseilte Bergsteiger.”


Mit der Welt von Jost Gebers Label FMP kam ich auf die ganz typische Art und Weise in Berührung - durch Peter Brötzmanns inzwischen klassisches Album Machine Gun (FMP 0090, FMP CD 24). Das war 1986, als ich nach meinem Film- und Kommunikationsstudium an der McGill University von Montreal zurück nach Boston kam, wo meine akademischen Ambitionen schnell hinter mein Interesse an Musik zurücktraten. In den Jahren meines Studiums hatte die Musik von Joe McPhee, Ornette Coleman, Albert Ayler, Archie Shepp, Don Cherry, Eric Dolphy und Cecil Taylor mein Hören bestimmt. Kurz nach meiner Ankunft in Boston traf ich bei einem Jazzkonzert im Willow Club in Somerville den Musikwissenschaftler, Veranstalter, Autor (und inzwischen Galerieleiter) John Corbett. Wir hatten beide reges Interesse an allen neuen Arten von Musik und verstanden uns sofort. Eines Nachmittags besuchte ich ihn in seiner Wohnung, um etwas zu spielen und ein paar Platten zu hören. Das erste, was er auf den Plattenspieler legte, war das Titelstück von Machine Gun – ich hatte noch nie etwas gehört, das auch nur im entferntesten so geklungen hatte. Und ich war zu schlecht informiert um zu verstehen, dass ein Teil der Intensität des Saxophonsounds durch tatsächliche Verzerrung am Aufnahmegerät entstanden war (Peter Brötzmann, Willem Breuker und Evan Parker hatten die Nadel kräftig in den roten Bereich gedreht), und verbrachte danach Wochen mit dem Versuch "diesen Sound" beim Üben auf meinem Tenor hinzubekommen.

Wenig später zog John nach Chicago, und wir verloren uns aus den Augen, bis ich im Herbst 1989 selbst nach Chicago ging. Mit ihm verschwand mein Zugang zur Improvisierten Musik aus Europa, vertreten auf Labeln wie FMP. Zwischen der Mitte und dem Ende der achtziger gab es eine Menge phantastischer Plattenläden in der Bostoner Gegend, aber - sei es durch Schwierigkeiten bei der Beschaffung oder aus Mangel an Interesse, war es so gut wie unmöglich, Alben von unabhängigen europäischen Labeln zu finden. Hinzu kam, dass ich nicht wirklich wusste, nach welchen Musikern ich suchen sollte - außer nach Brötzmann - (während meiner Zeit in Montreal hatte ich das Vergnügen gehabt, ein Konzert mit ihm, Peter Kowald und Andrew Cyrille zu erleben), und es war schwer, an Informationen über die aktuelle europäische Szene zu kommen und zu wissen, welche Alben man kaufen sollte (das alles war lange bevor das Internet einem half, solche Probleme zu lösen); damit waren meine Möglichkeiten, mich weiter mit der Musik zu beschäftigen, die da auf dem anderen Kontinent gespielt wurde, erheblich eingeschränkt.

All das änderte sich schnell, als ich nach Chicago kam. Im verzweifelten Versuch, nach meinem Umzug gleichgesinnte Leute und Musiker zu finden (Chicago war eine sehr große Stadt und ich fing im Grunde wieder bei Null an, obwohl ich schon einige Jahre in Boston gearbeitet hatte), schlug ich John im Telefonbuch nach und spürte ihn auf. Schon bald trafen wir uns wieder auf Konzerten und redeten über Musik. Bei diesen Treffen fragte ich ihn oft, welche europäischen Musiker und Alben er empfehlen könne. Und es stellte sich heraus, dass diese Liste lang war. Viele der Musiker, die er empfahl, waren bei der FMP vertreten und dank der Wiederveröffentlichungen, die zu dieser Zeit auf den CD-Markt zu strömen begannen, konnte ich endlich mein eigenes Exemplar von Machine Gun erwerben (mit extra Tracks!), und eine ganze Menge weiterer Alben von Musikern, von denen ich noch nie gehört hatte. Eines der Schlüsselwerke für meine Entwicklung als Musiker in dieser Zeit war Duets:Dithyrambisch (FMP CD 19/20), erschienen bei FMP im Jahr 1990. Diese Aufnahme war für mich so etwas wie ein Lehrbuch fortgeschrittener Saxophon-Technik - in der Mitte der neunziger Jahre hörte ich sie ununterbrochen und versuchte herauszufinden, wie Evan Parker, Hans Koch, Louis Sclavis und Wolfgang Fuchs diese Klänge und Strukturen auf ihren Instrumenten schufen. Wegen dieser Doppel-CD entschloss ich mich, die ‚Circular Breathing’-Technik zu lernen - dieses Werkzeug war einfach zu wichtig für das, was diese Musiker auf ihren Instrumenten taten und was ich auf meinem erreichen wollte.

Im November 1995 kam eine Gruppe von Musikern, die mit dem Label verbunden waren, für eine dreitägige Konzertreihe in die Stadt, als Teil des “FMP Visits Chicago” Festivals, das John Corbett mitorganisiert hatte. Zum ersten Mal traf ich, unter anderem, Peter Brötzmann, Peter Kowald, Paul Lovens, Evan Parker, Barre Phillips, Irène Schweizer und Philipp Wachsmann. Am Abend ihrer Ankunft spielte das NRG Ensemble ein Konzert im inzwischen geschlossenen Bop Shop. Ich hatte das Pech, mir am Tag davor eine schlimme Lebensmittelvergiftung einzufangen, und erlebte dadurch den absoluten Alptraum, vor einer ganzen Reihe meiner musikalischen Helden zu spielen und mich zwischen den einzelnen Soli setzen zu müssen, um mich auf der Bühne nicht zu übergeben. Nach dem Konzert kam Peter Brötzmann zu Mars Williams und mir, umarmte uns und sagte, “Yeah! Ich höre mich in eurem Spiel wieder!” Nachdem wir fast ein Jahrzehnt intensiv seine Musik gehört hatten, hatte er sicherlich Recht. Aber das machte seine Bemerkung für uns nicht weniger aufregend.

Am nächsten Abend gab es ein besonderes Essen für die Leute, die am Festival teilnahmen, also sowohl die Musiker aus Europa als auch die aus Chicago. (Die Gelegenheit, ein kurzes Duo mit Paul Lovens in der Goodspeed Recital Hall am letzen Abend der Reihe zu spielen, war für mich ein absoluter Höhepunkt - sogar nachdem ich fünf Tage nichts als Wasser bei mir halten konnte, und obwohl ich versehentlich eine Schachtel mit Blättern in meinem Saxophon vergessen hatte, als wir zu spielen begannen. Um mich auf diese Begegnung vorzubereiten, hatte ich Elf Bagatellen (FMP CD 27 / 1994) vom Schlippenbach Trio, wieder und wieder gehört). An dem Essen nahm auch eine Reihe von Musikstudenten der University of Chicago teil, die am letzten Tag des Festivals spielten, und gegen Ende des Essens ging einer von ihnen auf Peter zu, um mit ihm über Machine Gun zu reden, mit einem Exemplar der LP in der Hand.

“Hey P.B.!” (dieser Student hielt es scheinbar für notwendig, alle Leute im Raum mit ihren Anfangsbuchstaben anzureden, Evan Parker war “E.P.”, Paul Lovens “P.L.”)

Ein Blick auf Peters Gesicht verriet, dass er wusste was nun kommen würde.

“Mensch, P.B., du musst mir ALLES darüber erzählen wie ihr dieses Album aufgenommen habt! ICH MUSS WISSEN was ihr Jungs an diesem Tag zu Mittag hattet, wie das Studio aussah, was für Mikrophone ihr benutzt habt um diesen Sax-Sound zu bekommen, wie viele Aufnahmen ihr von jedem Stück gemacht habt. ....”

Bevor er diese Litanei benötigter Fakten noch fortsetzen konnte, schnitt Peter ihm das Wort ab - “Tschuldigung junger Mann, wie alt bist du?”

“Hm, so Mitte 20. Nun, etwa 21.”

“Das hab ich mir gedacht. Lass mich dir was sagen. Ich habe Machine Gun aufgenommen, bevor du überhaupt geboren warst. Und ich erinnere mich an NICHTS von dieser Aufnahme.”

Das war mein Einstieg in diese für viele Hörer unlösbare Verbindung zwischen Peter und MachineGun. Trotz Jahrzehnten unglaublicher Arbeit, Zusammenspielen mit einem Riesenaufgebot an internationalen Künstlern, und obwohl er heute besser als je zuvor in seinem Leben spielt (überzeugt Euch selbst davon, man das jederzeit selber feststellen, wenn man ihn mit irgendeiner Gruppe auf einer seiner zahlreichen aktuellen Tourneen hört), viele Leute denken, dass Machine Gun Peter und seine Musik definiert. Obwohl es ein unglaubliches Dokument ist und ohne Frage historisch bedeutsam, ist das Album nur ein wichtiges Statement. Peters ganze Laufbahn ist voll davon. Und dasselbe gilt auch für das Label FMP selbst.

Für mich ist das, was Machine Gun (und auch The Living Music [FMP 0100 / 1969]) herausragen lässt - so wie auch das Free Music Production Label insgesamt - die Tatsache, dass diese Aufnahmen so etwas aufzeigen wie den Zeitgeist in der europäischen Musik am Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre. Wenn man die Besetzungen betrachtet, die für diese beiden frühen Alben zusammengestellt wurden, ergibt sich die folgende Liste von Musikern - Han Bennink, Willem Breuker, Peter Brötzmann, Sven-Åke Johansson, Peter Kowald, Buschi Niebergall, Evan Parker, Paul Rutherford, Alexander von Schlippenbach, Manfred Schoof und Fred Van Hove - ein Querschnitt von prägenden Vertretern im Bereich des neuen Jazz und der Improvisierten Musik in Europa (aus Deutschland, England, Holland, Schweden und Belgien), Künstler, die sich von den amerikanischen Vorbildern lösten und ihre eigene Sprache und Ästhetik schufen.

Ich finde, es gibt in vielerlei Hinsicht eine Parallele zu einer anderen wichtigen Phase in der Geschichte der Kunst, als die “New York School” von Malern und Komponisten Wege fand, die Vorherrschaft des europäischen Erbes in diesen Bereichen zu brechen. Ich hatte das Glück, mit einer ganzen Reihe von europäischen Improvisatoren sprechen zu können, die direkt an dieser Loslösung beteiligt waren und die Begriffe, die sie benutzen, um die Kämpfe und die Opfer (sowohl künstlerisch als auch wirtschaftlich) zu beschreiben, die notwendig waren, um diese neue Musik zu schaffen, sind fast identisch mit den Äußerungen von Künstlern und Komponisten, die in den vierziger und fünfziger Jahren in New York lebten. In beiden Fällen wussten die Künstler wogegen sie antraten. Und obwohl sie absoluten Respekt und Ehrfurcht für das hatten, das vor ihnen da war, wussten sie, dass es nötig sein würde, ihre eigenen Ansichten und Ausdrucksweisen zu entwickeln, um einen Beitrag auf dem selben Level wie die vorangegangenen Neuerer zu leisten.

Der gemeinschaftliche Aspekt dieses Prozesses, der auf Alben wie Machine Gun und The Living Music deutlich wird, erstreckte sich über Jahre und ist auf vielen Alben der FMP dokumentiert. Der Höhepunkt dieser Reihe von Aufnahmen ist das bahnbrechende For Example: 1969-1978, ein Set mit drei LPs von Solo Aufnahmen, kleinen Gruppen und Orchestern und einem erstaunlichen Buch mit Archivphotos, Texten und Dokumenten. Das hieran beteiligte Musiker-Personal ist wahrhaftig ein historisches Abbild der europäischen Szene Improvisierter Musik dieser Zeit. – die Solisten: Steve Lacy, Paul Rutherford, Hans Reichel, Tristan Honsinger, Fred Van Hove, Derek Bailey, Albert Mangelsdorff, Johnny Dyani; Gruppen: Schlippenbach Trio, Brötzmann/Van Hove/Bennink + Mangelsdorff, Frank Wright Unit, Schweizer-Carl Quartet; Orchester: Willem Breuker Orchestra, Globe Unity Orchestra, Vinko Globokar Brass Group, ICP Tentet. Ich habe diese Sammlung nur zweimal gesehen. Das eine Mal in Harald Hults Plattenladen in Stockholm, und das andere Mal in Berlin, auf den Spuren einer unglaublichen Plattensammlung. Es ist das einzige, was ich jemals bei eBay zu kaufen versucht habe. Ich habe Peter Brötzmann gefragt, ob er glaubt, dass diese Box jemals neu aufgelegt wird, das Buch inklusive. Seine Antwort war dass, obwohl das ganze Material noch existiert, die Kosten und die Logistik es fraglich, wenn nicht gar unmöglich machen würden. So wie es aussieht, wird eines der großartigsten Dokumente Improvisierter Musik aus dieser Zeit weiterhin nur als Sammlerstück zu bekommen sein.

Das Zitat am Anfang dieses Texts stammt von Georges Braque, der seine Erfahrungen mit Pablo Picasso beschreibt, als die beiden die Grundlagen des Kubismus schufen. Für mich scheint diese Aussage auch auf die Verbindung zwischen Jost Gebers und Peter Brötzmann zu passen. Für einen Außenstehenden dieser Zeit und Situation sieht es so aus, als hätten Jost und Peter die FMP gemeinsam aufgebaut; Jost suchte die Musiker aus, kümmerte sich ums Geschäftliche und um die Aufnahmen, und Peter lieferte die künstlerischen Arbeiten, seine bahnbrechende Aufnahmen und die A&R Arbeit für das Label. Aber außer ihnen weiß niemand, womit sie sich damals auseinandersetzen mussten und was besprochen wurde bei ihren Bemühungen, Wege zu finden, diese neue Musik zu dokumentieren. Man spürt das, wenn sie sich treffen, es ist eine ganz besondere Art von Verbundenheit im Raum, wenn sie zusammen sind, auch wenn nicht gesprochen wird. Wenn man bedenkt, was alles dazu gehörte, Free Music Production als Label zu definieren, von den Musikern, die präsentiert wurden über die Aufnahmen, die ausgewählt wurden, bis hin zur künstlerischen Gestaltung, dann gibt es keinen Zweifel, dass sie fühlten, was auf dem Spiel stand. Wie Peter dem Publikum in Krakau bei einem Sonore Konzert im Dezember 2008 sagte, “bei Musik geht es um Kontinuität“. Unter der Leitung von Jost Gebers hat die FMP ein Höchstmaß dieser Art von Kontinuität bedeutet und sie über Jahrzehnte immer weiter verbreitert.

Bemerkung
Zitat am Anfang des Textes:
Picasso: A Biography , (W.W. Norton & Company: 1976), von Patrick O'Brian, pp. 162.


Übersetzung: Thomas Watson


aus: Buch der Spezial Edition FMP im Rückblick

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