Felix Klopotek (2001)

Nichts für Hippies

Absolute Musik und ihre Geschichte: Der amerikanische Free Jazz und die europäische Improvisierte Musik proben bis heute das hierarchiefreie Spiel.

Die Trompete röchelt. Sie spuckt, grummelt, schleudert kurze Phrasen raus, die sich zu keiner Melodie formen, noch nicht mal zu klar erkennbaren Tönen. Die Phrasen verdichten sich. Die Trompete spielt jetzt Cluster. Das geht eigentlich gar nicht. Bekanntlich kann man auf dem Horn nur jeweils einen Ton spielen. Es ist kein Akkordinstrument wie das Piano oder die Gitarre. Und ein Cluster, das ist eine Tontraube, eine Ballung, ein verdammt fetter Akkord. Trotzdem spielt die Trompete Cluster - die Verdichtung der ohnehin zerfetzten, absichtlich unsauber artikulierten Töne durch eine schnelle Phrasierung erzeugt diesen Eindruck. Die Musikwissenschaft spricht von »Bewegungsclustern«. Der Umschlag von Quantität (Geschwindigkeit) in Qualität (Dichte).

Auf der Trompete liegt ein langer Hall, der einen ebenso scharfen wie bizarren Kontrast zu den übrigen Instrumenten abgibt, die von dem Tontechniker ganz trocken abgenommen sind. Obwohl die Trompete innerhalb der Dramaturgie der Gruppe klar dominiert, kippt sie durch diesen Sound nach hinten, ist - bei aller Präsenz - distanziert und irgendwie haltlos. Das Schlagzeug spielt dazu lange Wellen, sie rollen heran über eine abgeschabt klingende Trommel, gehen auf die Becken über, die rascheln, knistern, klicken, dann bricht sich die Welle an der Basstrommel, ein Crash, sie sackt in sich zusammen. Die beiden Kontrabässe behaupten sich zwischen diesen superprägnanten Instrumenten, zersägen die Zusammenhänge, die sich zwischen Trompete und Drumset zu entspinnen scheinen.

Die Verweigerung einer Linearität - etwa: das Schlagzeug zieht das Tempo an, also müssen wir das auch tun - führt zu einer Erweiterung der Sounddynamik. Musik, so denkt man sich, ist ja immer irgendwie linear. Ein Track dauert von 0:00 Minuten bis 8:34 Minuten, spult also ganz brav die Zeit ab. Das hier aber könnte stundenlang so gehen, ohne, dass man es merkt, ohne, dass es für die Wahrnehmung der Musik eine Rolle spielte.

Was das ist? Das ist Bill Dixon an der Trompete, Matthias Bauer und Klaus Koch am Bass, Tony Oxley am Schlagzeug, Berlin, Podewil, der 8. November 1999. »Berlin Abbozzi« (FMP CD 110). Gesucht, gefunden, ganz ohne Absprache. Das ist Free Jazz. Vielleicht ist das aber auch alles ganz falsch. Free Jazz, Improvisierte Musik - der abstraktere, allgemeinere, langweiligere Begriff - wird immer wieder gerne als absolute Musik beschrieben, siehe oben, siehe fast jeden Artikel, der in Fach- und Kunstmagazinen zu dieser Musik publiziert wird. Die Rede von der absoluten Musik ist paradox. Man redet sich über Improvisation und Improvisierte Musik den Mund fusselig, obwohl es doch eigentlich nichts zu reden gibt.

Nähme man den Anspruch ernst, der immer wieder an Improvisierte Musik herangetragen und von den Improvisierenden immer wieder bekräftigt und erneuert wird, dass es nämlich bei dieser Musik um die Untersuchung eines Momentes respektive einer Möglichkeit gehe, und zwar ohne den Moment vorher zu fixieren und die Untersuchungsmethode festzulegen, dann wäre bereits alles gesagt. Dann gäbe es ein schier endloses non-lineares Kontinuum, ohne Geschichte, ohne Entwicklung. Die Musik wäre stets neu und immer anders, weil sie nur dem Jetzt, dem Augenblick und dem jeweiligen Mitspieler verpflichtet wäre.

Die Musik hat aber eine Geschichte. Sie beginnt z.B. 1949, als der blinde Pianist Lennie Tristano in einem New Yorker Studio mit seiner Band die ersten beiden auf Platte dokumentierten freien Improvisationen einspielt. Oder 1960, als aus Los Angeles das Quartett des Altsaxophonisten Ornette Coleman in New York einrollt und von den alten Bebopern beinahe von der Bühne des Five Spot Café geprügelt wird. Das ist Katzenmusik, aber für einen kurzen Moment unglaublich hip. John Coltrane und Sonny Rollins, die damals frisch gekürten Saxophongiganten, stößt die tonal und rhythmisch nicht mehr fixierte Improvisationsweise Colemans in eine tiefe Schaffenskrise. Während Rollins mit dem Free Jazz aber nur kurz flirtet, wird Coltrane ab 1964 zum Mentor der Free Jazz-Bewegung.

Am 21. Dezember 1960 spielt Coleman ein fast vierzigminütiges Stück ein, das seine Plattenfirma Atlantic ein halbes Jahr später unter dem Namen »Free Jazz« veröffentlicht. Ende 1961 beginnt die eben noch verschworene Gruppe zu zerfallen. Coleman ist der einzige, der sich kein Gift durch seine Venen jagt, die anderen - Don Cherry, Charlie Haden, Ed Blackwell - sind physisch am Ende. Es dauert bis Mitte der Sechziger, ehe sie wieder kontinuierlich arbeiten können.

Die Geschichte beginnt aber auch in Wuppertal. Wuppertal ist in den Sechzigern eine Kunstmetropole. In der Galerie Parnass finden die ersten europäischen Fluxus-Happenings statt, Nam June Paik unterrichtet an der Kunstschule. Er hat einen jungen Assistenten, einen ausgebildeten Werbegrafiker und Maler: Peter Brötzmann, der auch Saxophon spielt und amerikanischen Free Jazz hört. Er lässt sich von der Bühne schmeißen und macht so lange weiter, bis er genug Gleichgesinnte in Europa gefunden hat, um eigene Platten auf eigenen Labels zu veröffentlichen.

Im Mai 1968 fährt er mit sieben von ihnen als Peter Brötzmann Octet nach Bremen, um in der Kneipe »Lila Eule« eine Aufnahme zu machen. Die Platte wird »Machine Gun« (FMP 0090 / FMP CD 24) heißen. Es ist ein Monster geworden, das den jungen Improvisatoren schnell über den Kopf wächst. Ein Toben, Wüten und Schreien. Schlechte Laune macht Spaß. Noch heute wird Brötzmann von Fans und Journalisten als »Brötzila (destroys all monsters of Improv)« bezeichnet. Ein hartes Urteil, weil es nur zur Hälfte stimmt; Brötzmann ist nicht zuletzt ein Meister der brüchigen, verloren stolpernden Ballade. Aber vielleicht ist es leichter zu ertragen, wenn man sich eingesteht, dass »Machine Gun« tatsächlich der große Wurf war.

Damals wurde die Musik noch nicht als absolute rezipiert - obwohl sie nie so absolut war wie damals -, sondern als politische. Das Improvisationsensemble war die ästhetische Antizipation einer egalitären, autonomen, befreiten Gesellschaft. Außerdem: »Machine Gun«? Mai 1968? Nein, Brötzmann streitet damals jeden vordergründigen politischen Zusammenhang ab. Don Cherry habe ihm mal gesagt, dass sein Spiel wie ein Maschinengewehr klinge. Das ist alles. Dass er der politischen Rezeption widersprach, hat ihn möglicherweise vor Größenwahn gerettet. Es ist nämlich nirgendwo ein Hinweis zu finden, dass »Machine Gun« zum Soundtrack der 68er-Rebellion getaugt hätte. Die Platte zirkulierte damals in einer 500er Auflage. Erst mit den Jahren wurde sie zum Markenzeichen des immer noch in Wuppertal Lebenden.

Die Nachfolgeplatte, »Nipples« von 1969, ist erst jetzt wieder veröffentlicht worden, nur Die-Hard-Sammler konnten sich noch an sie erinnern. Ein gefundenes Fressen für ultrahoch gezüchtete Hipsterfraktionen: Allein in den USA sind von der CD vier Wochen nach der Wiederveröffentlichung im letzten Sommer 3000 Stück verkauft worden. »Nipples« ist kompakter gespielt und besser aufgenommen als »Machine Gun«. Aber noch immer hämmern Brötzmanns Schreikaskaden alles Konstruktive und Bedächtige weg, und das Schlagzeugspiel des Amsterdamers Han Bennink - auch er war ursprünglich ein Fluxuskünstler - klingt, als wolle er die späteren Blastbeats der Speedmetaldrummer auf die rhythmische Konfiguration des Swingjazz applizieren.

Der Free Jazz hat die Politik überlebt. Vor ein paar Jahren, als der politische Analogieschluss zwischen »Machine Gun« und Revolte aus der Mode gekommen war, gab dann auch Brötzmann zu, dass sie damals die Schnauze voll gehabt hätten, den Fernseher einzuschalten und zu sehen, wie Bullen auf Wehrlose einprügelten. »Machine Gun« war der Kommentar, »automatic gun for fast, continous firing« prangte stolz auf dem Cover. »Peter Brötzmann«, schrieb der DDR-Kritiker Bert Noglik 1981, »ist in der Lage, Stimmungen aufzunehmen, ohne sie in Begriffe verwandeln zu müssen oder zu wollen«. Nichts für Hippies. Europäische Free Jazzer hatten kurz geschorene Haare und trugen Latzhosen. Später ging man zu Anzügen über.

1968 hatte der afro-amerikanische Free Jazz seine glorreiche Phase bereits hinter sich. Vier Jahre zuvor hatte Bill Dixon die Oktoberrevolution des Jazz organisiert. Wie gesagt, Sonny Rollins und John Coltrane waren von Coleman tief verunsichert, der wiederum war erst mal frustriert untergetaucht. Aber es gab eine ganze Reihe junger, damals komplett unbekannter MusikerInnen: Albert Ayler, Archie Shepp, Carla und Paul Bley, Annette Peacock, Alan Silva. Sun Ra kam 1961 aus Chicago nach N.Y. und der mysteriöse Cecil Taylor war gerade aus seinem schwedischen Exil zurück, wo man seinen irrwitzigen Pianoattacken gegenüber aufgeschlossener war.

»Ich kannte damals einen Mann, der ein Kaffeehaus in der 91. Straße besaß, das Cellar Cafe«, so Dixon 1995 in einem Interview mit dem Journalisten Christian Broecking. »Ich war auf der Suche nach einem eigenen Auftrittsort, und wir kamen schließlich darin überein, dass er mich als musikalischen Direktor engagierte, der Konzerte in seinem Laden organisieren sollte. Und diese Konzerte waren von Anfang an ein großer Erfolg. Die Leute, die ich engagierte, kamen aus der Avantgarde-Szene jener Tage. Junge Musiker, die New Music machten. Das Konzept war, dass jeder so lange spielen konnte, wie er wollte, und dass der Eintritt billig war. Man konnte Kaffee trinken und Donuts futtern und sich Musik anhören, die es nirgends sonst gab. (...) Wir waren keine konspirative Untergrundbewegung, die sich gegen dies und jenes organisierte. Während vier Tagen fanden an die 40 Konzerte und Diskussionsrunden zum Thema New Thing statt, und mehr als 700 Leute drängelten sich in dem kleinen Café. Der Titel Oktoberrevolution kam von einem befreundeten Regisseur, Peter Sabino. Wir brauchten eine Headline für unsere Werbung in der Village Voice, und er sagte: »Wir haben Oktober, und was ihr da macht, könnte man als eine Art von Revolution gegen den zeitgenössischen Mainstream bezeichnen, warum also nicht einfach Oktoberevolution?«.

Auf den kurzlebigen Hype folgten einige Plattenverträge für Ayler und Shepp, eine Selbstorganisation der Musiker, wie sie Bill Dixon vorschwebte, gelang nicht, der Mainstream blieb unbeeindruckt. Wobei man fairerweise sagen muss, dass zu keinem Zeitpunkt der Jazzmainstream so spannend war wie damals. Das Miles Davis Quintett mit Wayne Shorter, Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams zelebrierte damals einen Proto-Free-Jazz, der noch großartiger gewesen wäre, hätte es keine Musiker wie Taylor oder Dixon gegeben. John Coltrane starb am 16. Juli 1967 an den Folgen von Leberkrebs. Ayler und Coleman spielten auf seiner Beerdigung.

Zwei Jahre später wandern die Free Jazzer nach Paris aus. Der Kontakt zur europäischen Szene gestaltet sich jahrelang sehr schwierig, zu unterschiedlich sind die Auffassungen, was freie Improvisation bedeuten kann. Man muss nur die Aufnahmen Taylors aus den siebziger Jahren - scherzfreie, monochrome, superkomplexe Klavierläufe - mit »3 Points And A Mountain« (1979, FMP 0670 / FMP CD 107) von Peter Brötzmann, Han Bennink und dem Pianisten Misha Mengelberg vergleichen. Aus dem Powerplay der Sechziger ist ein disparates postdadaistisches Happening geworden: Volksmusikfetzen, Kommunikations-verweigerung, umgekrempelte Balladen, fiese Lärmsplitter. »Three Points« ist ein Paartanz für drei Personen mit verbundenen Augen. Sehr europäisch.

Zehn Jahre später funktioniert es dann. Die Free Music Production (FMP), eine ehemalige Berliner MusikerInnenkooperative und seit 1969 Mutterschiff aller europäischen ImprovisatorInnen, organisiert das come together und lädt 1988 Cecil Taylor ein, mit seinen europäischen Kollegen zu spielen. »Nailed« (1990, FMP CD 108), erst kürzlich auf CD rausgebracht, ist ein besonders schönes Dokument der Fusion. Der Wall of Sound Cecil Taylors verschmilzt mit den quecksilberschnellen Interaktionen der Briten Evan Parker (Saxophon), Barry Guy (Bass) und Tony Oxley (Schlagwerk) zu einer neuen Dimension in der Improvisierten Musik: zersplittert, unübersichtlich und von solch eigentümlicher Gestaltung, dass man wirklich nicht weiß, ob die Musiker den Autopiloten eingeschaltet haben oder ob es sich um das Produkt einer planenden, reflektierenden Vernunft handelt. Der Gitarrist und Improvisator Olaf Rupp spricht in diesem Zusammenhang von einer Musik, »die weder vom Willen gesteuert wird noch vom Zufall«.

Bis heute ist Free Jazz - und das, was aus ihm folgte: eben Improvisierte Musik als abstrakteres, allgemeineres und langweiligeres Interaktionsmodell - dieser Dichotomie von Spontaneität, Unmittelbarkeit, Non-Linearität und Zufall auf der einen Seite und Geschichte, soziokulturellem Kontext und Willen auf der anderen ausgesetzt. Man kann ganz schnell zum Free Jazz-Spezialisten werden, da es prinzipiell keine Hierarchie von den Aufnahmen und Live-Performances gibt. Man muss nur zuhören.

Man wird aber auch ganz schnell abgestoßen von all den Tonnen Anekdoten und Geschichten, die in dieser kleinen Szene sofort eine starke persönliche Färbung erhalten. Die Frage ist, ob die Musik, die ja immer noch gespielt wird, in Amerika sogar mehr denn je, diese Spannung aushält, also aus der souveränen Position einer jahrzehntelangen Erfahrung agiert und doch den Mief der I-was-a-punk-before-you-were-Attitude wegbläst. Bis jetzt ist ihr das ganz gut gelungen.

aus: Jungle World, 17. Januar 2001

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