Jürg Solothurnmann (1980)

Zwischen Erfolg und Frustration

Free Music Production – ein Bollwerk der Kreativität

Der Free Jazz oder Avantgarde-Jazz besteht offiziell als Tendenz schon seit mehr als 20 Jahren – für die flexible, auf sozio-ökonomische Wandlungen schnell reagierende Jazzmusik eine beträchtliche Zeitspanne. Auch die Berliner „Free Music Production (FMP)“, eine unabhängige Schallplatten- und Konzertorganisation, befindet sich bereits im elften Jahr ihrer Existenz, und mag dadurch verleitet werden, ihren Bestand schon als garantiert hinzunehmen.

In der zweiten Hälfte der 60er Jahre begann der Free Jazz auch in Europa endgültig Fuß zu fassen, und die dem Jazz relativ aufgeschlossene Bundesrepublik wurde zu einem wichtigen Zentrum. Musiker wie Peter Brötzmann (Saxophone), Wolfgang Dauner, Alexander von Schlippenbach (Klavier) oder Manfred Schoof (Trompete) entwickelten autodidaktisch oder aufgrund ihrer akademischen Vorbildung Konzepte, deren Fortsetzung heute als europäische Varianten des amerikanischen Free Jazz anerkannt sind.

Wenn es mit den Arbeitsgelegenheiten für Musiker, die sich den kommerziell verwertbaren Funktionen (Unterhaltung und Tanz) nicht anpassten, bereits schon nicht zum Besten stand, so waren die Spielmöglichkeiten für Free Jazzer ausgesprochen gering. Die auf Dixieland, Mainstream oder Modern Jazz eingeschworenen etablierten Veranstalter und Kritiker deuteten in die neue Tendenz nur Aggressionen und Destruktion hinein. Free Jazz schien alle Bemühungen, den Jazz als Konzertmusik dem Bildungsbürger akzeptabel zu machen, über den Haufen zu rennen. Die Free Jazzer wurden entweder als verirrte Stümper verlacht oder als Spielverderber und revolutionäre Psychopathen beschimpft.

In Musikerkreisen erkannte man, dass sich nur etwas ändern konnte, wenn man zur Selbsthilfe schritt. Vorbilder für Musikerinitiativen in Konzertorganisation und in Produktion und Vertrieb von Schallplatten gab es bereits vereinzelt in den USA. Weil sich die Schallplattenkonzerne und auch die Rundfunkanstalten dem neuen Jazz verweigerten, hatten bereits verschiedene Musiker eigene Platten aufgenommen, um sie per Versand und an ihren Konzerten zu verkaufen. Peter Brötzmann bot bereits „For Adolphe Sax“ und „Machine Gun“ an (später als FMP 0080 und FMP 0090 übernommen), zwei heute historische Dokumente, die er 1967 und 1968 mit der bereits internationalen Gilde der Avantgardisten aus England, Holland, Belgien, Schweden und der BRD aufgenommen hatte. Es reifte die Idee eines genossenschaftlichen Schallplattenverlags.

Kristallisationspunkt der FMP waren aber vorerst die Konzert-Eigeninitiativen von deutschen Musikern, an denen man sich traf und gemeinsame Probleme und Absichten erkannte. Im lebhaften Jahr 1968 veranstalteten z.B. westdeutsche Musiker in Köln – sinnigerweise in einer Tiefgarage – eine Gegenreihe zu den Veranstaltungen von „Jazz am Rhein“ und in Berlin kam erstmals das „Total Music Meeting“ zustande, weil an den Berliner Jazztagen einheimische Musiker und besonders die Avantgarde übergangen wurden. Diese Kampfansage an den smarten Impressario/Kunsthändler Ralph Schulte-Bahrenberg und den Jazzpapst Joachim E. Berendt, die voll auf Gewinn arbeiteten, fand im berühmten „Quartier des Quasimodo“ statt, einem Underground-Lokal und Treff der Studenten. Jazzkritiker hatten den doppelten Eintritt zu bezahlen, wenn sie Musiker und Gruppen wie das britische „Spontaneous Music Ensemble“ oder den damaligen Free-Rebellen John McLaughlin in Gunter Hampels Gruppe hören wollten. Selbst Stars der Jazztage wie Pharoah Sanders und Sonny Sharrock stahlen sich nach ihren Auftritten in der Philharmonie zum Jammen herbei.

Dieser Anlass demonstrierte nebst Solidarität der Musiker einen Hauptzweck der nachmaligen FMP: Um die geringen Spielmöglichkeiten zu erweitern und um didaktisch auf Publikum und Musikerkollegen einzuwirken, sollte die Genossenschaft nicht nur eine Schallplattenfirma oder Musikagentur sein.

Feste Strukturen?

Schon bald nach Beginn hätte die FMP beinahe Schiffbruch erlitten – ähnlich wie viele andere spontane Initiativen. Dem antiautoritären Zeitgeist und dem Individualismus der Musiker entsprechend dachte niemand an eine feste Organisationsstruktur und meinte, ohne finanzielle und rechtliche Regelungen auszukommen. Der ehemalige Bassist und die Triebfeder Jost Gebers und Peter Brötzmann machten sich nicht überall beliebt, als sie im Herbst 1969 der FMP feste Gestalt verliehen: „Free Music Production ist eine Non-Profit-Organisation von Musikern, deren Ziel es ist, zeitgenössischen Jazzmusikern und Komponisten von der kommerziellen Musikindustrie unabhängige Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen und durch geeignete Präsentation dem Hörer einen informativen Überblick über die neue Jazzmusik zu ermöglichen.“

Gebers und Brötzmann erkannten, dass man als Alternativorganisation die sozialen und wirtschaftlichen Formen der kapitalistischen Gesellschaft nicht radikal zu verwerfen braucht, sondern sie auch für eigene Zwecke dienstbar machen kann. So analysierte 1975 die „Neue Musikzeitung“: „Hinter FMP steht zweifellos auch ein soziales Programm. Ihre Platten sind eine musikalisierte Agitation für ein erträglicheres Zusammenleben. Die Utopie einer kreativen Sozialisation gewinnt hier, in der Verkettung von künstlerischen und wirtschaftlichen Bereichen, durchaus eine praktikable Realität.“

Individualismus, tiefverwurzeltes Misstrauen gegen jede Organisation und schnell erlahmender Enthusiasmus, als sich nicht gleich ein großer Erfolg einstellte, veranlasste viele Musiker, bis 1972 Gebers und Brötzmann nicht zu unterstützen. Auch wenn heute viele Musiker im Programm von FMP zu finden sind, besteht mit den meisten nur eine lose Zusammenarbeit.

Workshops Freie Musik

Jost Gebers erhielt erstmals von der Berliner Akademie der Künste eine Einladung, im Frühling 1969 eine Konzertreihe zu organisieren, damals im Rahmen der Ausstellung „Junge Generation Großbritannien“. Die „Three Days of Living Music and Minimal Art“ wurden aber fast ein Fiasko. Das Publikum war dem Nebeneinander von „Alexis Korner’s Blues Group“ und dem Avantgarde-Nonett Alexander von Schlippenbachs nicht gewachsen und verursachte zudem an den ausgestellten Kunstobjekten beträchtlichen Schaden und Schlägereien.

Dennoch – und kluger geplant – ging 1970 der erste Osterworkshop in Szene und ist seither in der Akademie zur festen Tradition geworden. Die Akademie stellt Finanzen, Räume und Mitarbeiter zu Verfügung, ohne FMP weiter in Programm und Gestaltung hineinzureden.

Auch in Bezug auf diese nunmehr fünftägigen Workshops galt es zuerst Erfahrungen zu sammeln. Bis 1972 bestanden sie aus öffentlichen Proben auf zwei Podesten und einem reinen Free-Jazz-Programm. Dies war zugleich der erste Versuch von FMP, Free Jazz aus dem Klub oder Konzertsaal in offene Räume zu bringen, wo sich Publikum und Musiker frei bewegen können. „Aber es gab auch hier noch erhebliche Missverständnisse. Musiker und Gruppen, die aus der offenen Form des Workshops wieder geschlossene Konzerte mit geschlossenen Abläufen machen wollten, Publikumsgruppierungen, die mitspielen oder dagegen spielen wollten (Flötenhersteller müssen in diesen Jahren gewaltige Umsätze gemachten haben)“, erinnert sich Gebers.

Seit 1973 beschränkt sich FMP auf ein zentrales Podest in der großen Ausstellungshalle, um die Konzentration zu erhöhen: „Die 5-Tage-Reihe verschob sich immer mehr von der Präsentation, vom Abliefern, zum Prozess, zum Erproben. Der größere Teil des Publikums kommt ohne extreme Hörerwartung, will sich nicht mehr unbedingt Hörgewohnheiten bestätigen lassen“. Schwerpunkte der Workshops bildet seit 1975 immer ein bestimmtes Instrument, dessen Spielarten von profilierten Avantgardisten improvisatorisch vorgestellt werden. FMP vergibt auch Kompositionsaufträge für die Workshops und lädt erfahrene Musiker ein, mit talentierten Nachwuchsvertretern Stücke zu erarbeiten.

Das Total Music Meeting

Das regelmäßig während der Berliner Jazztage (aber nach deren Konzertende) stattfindende „Total Music Meeting“ erhält von allen FMP-Veranstaltungen am meisten Aufmerksamkeit. Viele Festivalbesucher landen gegen Mitternacht im „Quartier Latin“, einem ausrangieren Kino mit Bar und preiswertem Restaurant, wo das Meeting heute stattfindet. Neben bereits international etablierten freien Improvisatoren bringt FMP immer auch Unbekannte nach Berlin. Der jetzige musikalische Leiter der Jazztage, der Basler Pianist/Komponist George Gruntz versucht, das Verhältnis zur FMP zu entspannen und lobte: „Bei Euch wird die Musik gemacht. Bei uns kann sie nur vorgeführt werden“.

Schon mehrmals haben die massiv unterstützten Jazztage (Budget über ½ Mio DM) Musiker übernommen die FMP erstmals bekannt gemacht hat. Da besteht ein totaler Unterschied zwischen den beiden Anlässen. Das „Total Music Meeting“ (Budget 65.000 DM) verzichtet bereits ausdrücklich auf Programmtexte. „Texte über Musiker sind bereits eine Art Etikettierung“, meint Gebers. „Wir wollen Prozesse zeigen und nicht Fertiges. Das Meeting muss anregen, provozieren“. Hier werden keine Stars verkauft; Überraschungen können dafür garantiert werden. Die verpflichteten Gruppen oder Solisten treten alle im Lauf der 5 Tage dreimal auf und können beliebig lange spielen. „Wir wollen keinesfalls innerhalb der üblichen Festivalschablonen (Anreise, auf die Bühne, 20 bis 40 Minuten spielen, Abreise) Musiker und Gruppen präsentieren, sondern vielmehr versuchen, die Arbeitsweise durch mehrfache Auftritte transparent zu machen. Für den interessierten Teil des Publikums ergab sich dadurch die Möglichkeit, intensiver den Prozess des Musikmachens kennenzulernen, aber auch qualitative Beurteilungsmassstäbe zu finden. Auf Seiten der dort auftretenden Musiker wurde, ohne den extremen Druck zum Abliefern, mehr von dem möglich, was eigentlich für diese Musik Substanz ist: sich selbst in Frage stellen, zu erproben, zu spielen“.

Das Publikum kann kommen und gehen, mehrere Hörversuche unternehmen und auch leicht in den Pausen mit den Musikern ins Gespräch kommen.

Die Schallplatten – eine Information und Dokumentation

Abgesehen von wichtigen älteren Eigenproduktionen von Brötzmann, Irène Schweizer, Pierre Favre u.a. sind die FMP-Schallplatten fast ausnahmslos Live-Mitschnitte, meistens von Berliner Veranstaltungen. Jost Gebers macht die elektronischen Aufzeichnungen mit einer portablen Ausrüstung und verzichtet nicht nur aus finanziellen Gründen auf die heute aufwändigen Aufnahme- und Mischtechniken der großen Konzerne: „Wir versuchen so realistisch wie nur möglich die musikalischen Abläufe festzuhalten. Ästhetische Überlegungen, wie ein Saxophon klingt oder ein Schlagzeug, entfallen zugunsten der Überlegung, wie ein Brötzmann klingt oder Gerd Dudek oder Evan Parker, wie Paul Lovens klingt oder Han Bennink“.

Nicht von ungefähr begegnet Gebers den kostspieligen, aber inhaltsarmen Jazzrock-Produktionen und auch dem ästhetisierten Kammerjazz, wie er von der Münchener Firma ECM und anderen gefördert wird, mit Ablehnung: „Ich bin gegen diese Innerlichkeit als etwas Absolutes. Sie wird hier zur Künstlichkeit. Solche Produktionen werden zudem total austauschbar, weil der individuelle Musiker hinter der Kunst nicht mehr greifbar ist!“

FMP-Schallplatten informieren über und dokumentieren die Arbeitsprozesse und Entwicklungen von zahlreichen Musikern wie Schlippenbach, dem „Globe Unity Orchestra“, Brötzmann, Rüdiger Carl, Irène Schweizer, Albert Mangelsdorff, Hans Reichel u.a. Es ist das Verdienst von FMP, dass der individuelle Avantgarde-Jazz in der DDR mit Exponenten wie Ulrich Gumpert, Ernst-Ludwig Petrowsky oder Baby Sommer auch im Westen bekannt wurde. Zahlreiche junge Musiker – auch aus der Schweiz (Urs Voerkel, Stephan Wittwer, Möslang-Guhl) – wurden ebenfalls nach Berlin eingeladen und mit Aufnahmen gefördert. Die freie Musik hat absolut ihren Nachwuchs, wie der mittlerweile fast auf 100 Titel angewachsene Katalog beweist.

Die ebenfalls von Gebers (seit 1972) herausgegebene Marke SAJ (die Initialen von Sven-Åke Johansson, der die erste Platte aufnahm) verfolgt dieselben Ziele, hat aber mit den Musikern verschiedene Abrechnungsweisen, während FMP Honorare pro gepresste Platte bezahlt. Das Geld, das die bescheidenen 500er Auflagen einbringen, wird gleich wieder in neue Projekte investiert, und manchmal vergeht lange Zeit, bis der Verkauf die Kosten deckt. „Sicher ist Umsatz erfreulich“, stellt Gebers fest, „weil lukrativ. Aber wichtiger ist es, 1000 Leute mit neuen Dingen bekannt zu machen, als 10 000 Leuten alte Platten zu verkaufen“.

Ein derartiger Einsatz verlangt bedeutende Opfer. Bis vor kurzem wurden FMP-Platten nicht einmal in Deutschland von einer der wichtigen Vertriebsfirmen verkauft. Der Vertrieb ist das Problem, eine Platte zu produzieren dagegen leicht und billig.

„Wenn Jost Gebers und seine Frau nicht arbeiten gingen und nicht ständig Geld hier reinpumpen würden, dann wäre das Ganze nicht machbar. Jost Gebers arbeitet für FMP „nur“ in seiner Freizeit, das ganze natürlich unentgeltlich, „schreibt der Kaufmann Dieter Hahne, der einzige feste Angestellte (Monatslohn 1000 DM). Ein schwerer Schlag traf FMP letzten Herbst: Bei einem Einbruch wurde ihre ganze Ton- und Aufnahmeanlage gestohlen. Die Versicherung entschädigt nur den Zeitwert, aber die Preise für elektronische Geräte sind sehr gestiegen – und die Diebe bisher unauffindbar…

aus: Kulturmagazin (Schweiz) # 19, Februar 1980

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