For Example/Workshop Freie Musik - 1969-1978

Wilhelm Liefland (1978)

Ritus - Freiheit - Klang - Utopie

….diese Welt ist nicht die bereits gewordene, sondern die, welche darin umgeht, welche als regnum hominis nur erst in Zukunft, Angst, Hoffnung bevorsteht. Die Beziehung zu dieser Weltmacht Musik gerade gesellschaftlich seismographisch, sie reflektiert Brüche unter der sozialen Oberfläche, drückt Wünsche nach Veränderung aus, heißt hoffen.
Ernst Bloch

Die Summe der musikalischen Unterschiede zwischen Free Jazz und Jazz stellt….nicht ausschließlich nur musikalische Tatbestände in Frage, sondern über sie hinaus auch eine Konzeption von Musik, mithin etwas, was gleicherweise zum musikalisch-ästhetischen Bereich wie zum kulturellen gehört und beider Beziehung zur Ideologie spiegelt.
Carles/Comolli

I
Brötzmann/Van Hove/Bennink: FMP 0130: Titel: For Donaueschingen ever - Konzert für zwei Klarinetten - Nr. 7 - Wir haben uns Folgendes überlegt - Paukenhänschen im Blaubeerenwald - Nr. 9 - Gere Bij - Nr. 4 - Nr. 6 - Donaueschingen for ever. Rec. 25. 2. 1973 in Bremen. Rec. Ing.: Dietram Köster. Supervision: Peter Schulze. Prod.: Jost Gebers.

In Stück 1 schon ein eleganter Fight mit reduzierten Ton-Ohrfeigen von p, dr und bs. Unter der Schirmherrschaft des satirischen Titels werden die Klangfetzen zu Pointen, Celesta-Tupfer neben den Upper-Cuts Benninks, kurz, knapp: „mehr ist zu Donaueschingen nicht zu sagen". Ein Schrei: Jahhh! Knock out. Man muss das Material der ernsten Konkreten und Elektronischen schon beherrschen, um daraus dessen Parodie zu formen. Stück zwei: überblasenes Klarinetten-Gezwitscher von penetranter Motiv-Leere, später Evan Parkers Methode, Geräusch und Klang zu einem seriellen Ereignis zu machen. Doppelbödig-satirisch, weil deutlich wird, dass dies eben nicht Elektronik ist, auch nicht ein Spaziergang in Mondrian-Abstraktionen und sonstigen Kunst-Analogien. 3: eine Art Piano-Rezitativ des elegisch-witzigen Pianisten Van Hove, des belgischen, unendlich traurigen Piano-Heines (cf. die neueste Solo-Platte „verloren maandag", SAJ-11/SVM 1), dessen vertrackte poetische Ironie in allen Stücken den Tönen immer schon auf der Schulter hockt. Becken/Tomtom + ts: gegen Ende eine allen Schippen-Witz vergessende kollektive, eruptive Improvisation. 4: Piano-Boogie, verzerrte Stimme als Knurrhund, ein langer vibratoloser Sax-Ton, Warnung davor, dass Freiheit und Phantasie an die Kette gelegt werden sollen. In 6 ist Brötzmann mit einem ts-Überblas-Solo voll im Fleische, Earl Bostic lässt in einem Abwärts-Glissando schön grüßen. Side 2, 1: Mit einem Kinderliedmotiv und dessen pianistische und trommlerische Cluster-Zersplitterung gelingt eine liebevoll-böse Anmerkung zum eingesperrten Ernst bürgerlicher Hausmusikkultur. Stück drei macht besonders deutlich, dass die zitierten Jazz-ldiome, nicht - Themen/Phrasen - wie früher in normalen Chorussen, vor satirischen Attacken auch nicht sicher sind. II, 4, korrespondierend zu I, 1, tauchen elektronisch verzerrt - wie Hydraköpfe - Partien einer romantischen Klavierkadenz auf, die Bennink mit ruppigen Schlägen kleinzukriegen versucht, zartes Celesta. Schrei: Jaaahhh! Anmerkung Brötzmann: „Fertig mit der Kunstmusik." Bennink: „Jaha, Kunst muss sein."

II
Das Frankfurter „Syndicat", die „Buchgesellschaft für Literatur und Wissenschaft", die seit 1976 - im Anschluss an die Tradition der enzyklopädistischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts - in Publikation und Arbeitskreisen versucht, den rituellen, mithin erkenntnishemmenden Wissenschaftsbetrieb der überkommenen Universitäten, die nichtweniger rituellen Zurücknahmen des Ende der sechziger Jahre und besonders seit 1968 blühenden kritisch-wissenschaftlichen Verlagswesens, schließlich die Ritualisierung linken Denkens und linker Theorie selbst aufzubrechen, um wissenschaftliche Theorie und politische Praxis endgültig zu säkularisieren, reproduziert auf ihrem Katalog den Entwurf zur Umgestaltung der französischen Nationalbibliothek von Etienne-Louis Boulée (1728-1799):
ein großes Tonnengewölbe mit weitem Oberlicht liegt links und rechts auf Säulenreihen auf nach klassizistisch-antiker Manier, entfernt der Basilika nachempfunden; darunter, an Längs- und Stirnwänden schräg nach oben gestaffelt und mit drei Zwischengängen, stehen die Bücher in vier jedem zugänglichen Regal-Systemen. Die Perspektive suggeriert Kilometerlänge. Die Menschen sind locker postiert, einzeln und - wie es scheint - in Diskussionsgruppen. Der Hallenboden ist breit und lang und frei von Mobiliar. Die Stirnseite lässt noch einmal Licht herein. Idee und Charakter dieses Bibliotheks-Entwurfs sind offensichtlich republikanisch-demokratisch. Heutige, nichtzugängliche Büchermagazine und das Bestellschein-Ritual in öffentlichen Bibliotheken erscheinen demgegenüber als (nicht nur bürokratische) Degenerationen des Bücherwesens. Der Bücherwurm in privater Schein-Autonomie nicht minder.

Der Pariser Mai von 1968 als Teil der weltweiten Studentenrevolte mit der Hauptparole, Proudhons „L'imagination prend le pouvoir", hat es nicht geschafft, die staatliche öffentliche Kontrolle von Kunst und Wissenschaft in intersubjektive Verifikationsvorgänge via permanenter Diskussion, in demokratische bloße Vertrauensregulative zu verwandeln. Geschweige denn, eine republikanische Kultur-Architektur zu entwickeln.

III
Es ist nicht nur nicht zufällig und auch nicht nur Analogie, sondern bedeutet die politisch-organisatorische Entfaltung der ästhetischen Parameter von Free Jazz, wenn 1969, im Kontext der radikal-demokratischen APO, des Auf- und Niedergangs des SDS, der Studentenbewegung und -Revolte insgesamt, die europäischen Pioniere des Free Jazz, den sie alsbald - als Kerntruppe auch der Free Music Production - in Free Music umtauften im Blick aufs Ganze der Musik und ihrer Anti-Bewegung gegen repressive gesellschaftliche Involvements (z. B. der offiziellen Berliner Jazztage oder der mittlerweile ritualisierten Erstarrung des Donaueschinger Avantgarde-Betriebs (seit immerhin 1922), wenn also1969 der erste Stock der Berliner Akademie der Künste, das Ambiente wurde für die erste Präsentation des „Workshop Freie Musik", seinerzeit noch „Three Nights of Living Music and Minimal Art" genannt, nach Maßgabe von happening-orientierten Ideen der Verschmelzung der Künste und Disziplinen.

Abgesehen von den Zauberworten „Kommunikation" und „Spontaneität", die späterhin auf fast allen Kunst-Szenen sich zu Fetischen erkälteten, musste der bürgerliche Konzertbesucher beim Hören und Erleben dieser Musik und angesichts der offenen Struktur des Saales anfangen, metaphysisch zu frieren, sollte er anwesend gewesen sein. Die innere weltenweite Entfernung von Künstler-Mythos und Kunstgläubigen zwischen Bühne (Podium) und Parkett wird in der Akademie kurzerhand auf Null gebracht, indem die Schall-Mauer zwischen Produzent und Konsument durchlässig und überprüfbar gemacht wird - die reinste Blasphemie auf die hermetische und quasi-kultische bürgerliche Musik-Praxis; ein Effekt der schöpferischen Gruppen-Rationalität, über den sich die überwiegend schwarzen US-amerikanischen Innovatoren des Free Jazz, die vorerst ihre eigene Identität suchten, musikalisch, kulturell, politisch, noch nicht so klar sein konnten. Sie hatten vor allem zunächst den Kampf gegen die weißen Monopole in Showbusiness und Musik-Industrie zu führen: vgl. abgesehen von dem noch nicht bahnbrechenden „lntuition" von Lennie Tristano (1949), einer reinen Gruppenimprovisation, Ornette Coleman, Free Jazz (1961); mit Eric Dolphy, bcl, Donald Cherry, pocket tp, Freddie Hubbard, tp, Scott LaFaro, b, Charlie Haden, b, Billy Higgins, dr, Ed Blackwell, dr; reissue ATL 50 240 That's Jazz 1976 WEA. Ferner: Ascension (1965); mit John Coltrane, ts, Pharoah Sanders, ts, Archie Shepp, ts, Marion Brown, as, John Tchicai, as, Freddie Hubbard, tp, Dewey Johnson, tp, McCoyTyner, p, Art Davis, b, Jimmy Garrison, b, Elvin Jones, dr. Impulse A-95 / Ariola-Eurodisc.

Deutsche, holländische und britische Avantgarde-Musiker waren 1969 längst auf dem Wege zu sich selbst und hatten bereits eine Free Music entwickelt, die sich in gleicher Weise auf die Coltrane, Coleman, Mingus, Shepp, Sun Ra, Taylor, Ayler usw. bezog, wie sie sich auf das abendlandtiefe Reservoir von Klängen, Motiven, Ideenstrukturen und Einstellungen zum europäischen musikalischen Erbe bezog, das seinerseits schon durch die 12-Ton-Methode (Schönberg, Berg, Webern), durch Konkretismus, Futurismus, Satie, DaDa und Eisler, durch die Avantgarde-Elektronik auch (Stockhausen), produktiv zerlegt und nicht selten witzig-aggressiv zerstört wurde. Diese hermeneutische Frechheit ist der geistige Normalzustand bei gültigen Innovationen. Der „ästhetische Sozialismus" (es versteht sich von selbst, dass sich marxistisch-leninistische Kader-ldeologie zur musikalischen Entfaltung demokratischer Phantasie ausschließend-kontradiktorisch verhält) wurde erstmals, in der jetzt zehnjährigen Reihe der „Workshops", 1969 in Auftritt und Klangbild des Alexander-von-Schlippenbach-Nonetts manifest, mit Musikern, die zum informellen Rumpf des „Globe Unity Orchestra" (gebildet nach ähnlich selbstorganisatorischen Prinzipien wie Mike Mantler's und Carla Bley's New Yorker „Jazz Composers Orchestra (Association)" (JCOA)) gehören (1966 erste Schallplatte): Manfred Schoof, tp, flh, Michel Pilz, bcl, Evan Parker, ts, ss, Peter Brötzmann ts, bs, Paul Rutherford, tb, Derek Bailey, g, Alex Schlippenbach, p, Buschi Niebergall, b, Han Bennink, dr. In kleiner Klangzelle stand dafür die „Donata Höffer Group": Donata Höffer, viol, p (Abstecher in die Polit-Rock-Gruppe „Lok Kreuzberg", heute Schauspielerin pur), Jost Gebers, b (später Ton-lng., Produzent und Geschäftsführer der „Genossenschaft" Free Music Production (FMP) und Manfred Kussatz, dr.

VI
Er nähert sich der Freiheit / von einer Seite / die wir nicht gewohnt Sind // Er nähert sich der Freiheit / auf eine Weise / die uns nicht zusagt // Er macht sich an die Freiheit / heran / Was will er von ihr // Keinen Schritt weiter / Zurück da / oder wir schießen // Wir schützen die Freiheit / vor jedem / der ihr zu nahe kommt
Erich Fried - für Herbert Marcuse

V
Die Achse Rheinland/Ruhrpott - Berlin ist für den deutschen Free-Jazz und für die Entwicklung des (jetzt Berliner) Musiker-Verbandes „Free Music Production" bestimmend. Eine andere Linie zieht sich nach Frankfurt, wo in den sechziger und siebziger Jahren eine ähnliche, aber hermetischere, weil relativ unpolitischere Entwicklung sich abzeichnete um Albert Mangelsdorff, der der FMP immer mal wieder locker assoziiert ist, um Emil Mangelsdorff, Heinz Sauer, Ralf R. Hübner, Günter Kronberg (†), Günter Lenz, Bob Degen, Peter Giger, Hans Koller, Dieter Scherf und heuer - mehr und mehr sich profilierend - Michael Sell, Thomas Cremer, Rainer Brüninghaus u. a. Um Peter Brötzmann bildet sich 1966 in Köln ein Verein, dessen Musik-Aktivitäten in einer Tiefgarage unter dem Titel „Jazz am Rhein" stattfinden. Hier entwickelt sich im Keim die Idee einer absoluten, industrieunabhängigen Autarkie der neuen Musik. Bis 1968 entstehen die ersten selbstproduzierten Schallplatten von Peter Brötzmann: „For Adolphe Sax", aufg. 1967 mit Brötzmann, ts, bs; Peter Kowald, b, Sven-Åke Johansson, dr; heute im Handel als FMP 0080. Die andere: „Machine Gun", aufg. im Pariser Mai 1968 in der „Lila Eule" in Bremen, mit Brötzmann, ts, bs; Evan Parker, ts; Willem Breuker, ts; Peter Kowald, Buschi Niebergall, b; Fred Van Hove, p; Han Bennink, Sven-Åke Johansson, dr; heute im Handel als FMP 0090.

Während der Berliner Jazztage 1968 bildet sich ein Alternativ-Festival der Free-Musiker heraus, das fortan unter dem Namen „Total Music Meeting" bis heute seine Tradition entwickelt. Die ersten Ideen zu a) einem fortlaufenden Workshop, zu b) Schallplattenproduktionen in eigener Regie werden konzipiert. Ostern 1969 findet der erste „Workshop Freie Musik" auf mehreren Bühnen und Podesten in der Berliner Akademie der Künste statt.

Subventionsgelder stellt die Akademie aus ihrem vom Berliner Senat gespeisten Etat zur Verfügung. Damit reduziert sich das Eintrittsgeld auf ein Minimum. Den Initiatoren des „Workshop" wird vollkommene Freiheit und Autonomie in inhaltlicher und formaler Gestaltung, was sich komplementär bedingt, eingeräumt. Pianist Alex Schlippenbach und Trompeter Manfred Schoof finden für den künftigen Zusammenschluss der Free-Jazzer den Namen „Free Music Production". [ Auch wenn es gut formuliert ist: Hier irrt Liefland – Namensfindung und Firmengründung erfolgten durch Gebers. ] Nach anfänglichen musikalischen und organisatorischen Schwierigkeiten gelingt erst 1972 die endgültige Koalition mit den Wuppertaler Musikern und Gruppen um Peter Kowald und Rüdiger Carl. Seither findet in Wuppertal jährlich der zu Berlin komplementäre „Wuppertaler Free Jazz Workshop" statt.

Noch ohne Vertriebsorganisation (die Platten werden vorläufig per Post, bei „Konzerten", Workshops und Festivals verkauft), gibt die FMP 1969 ihre erste Platte heraus: „European Echoes - Manfred Schoof", FMP 0010, aufg. Juni 1969 in Bremen. Der Name enthält Absicht, Selbstverständnis und Programm: es ist die „offizielle" Antwort der europäischen Free-Jazz-Avantgarde an Amerika. Auch hier sind die Musiker zum großen Teil Mitglieder des „Globe Unity Orchestra", das neben dem heutigen Willem-Breuker-Kollektief oder dem holländischen l(nstant) C(omposers) P(ool) und verwandten Gruppierungen den großorchestralen Free Jazz entwickelt. Kooperierend assoziiert werden nach und nach europäische Musiker-Selbst-Organisationen, „lncus", „Emanem" (England), ICP, BVhaast (Holland), sowie Einzelmusiker mit späteren Eigenproduktionen (letztes Beispiel: Paul Lovens/Paul Lytton, was it me? po torch records, ptr/jwd 1, 1977. Auch gibt es bald Kooperationen mit der Jazz-Moderne der DDR um Petrowsky und Gumpert.

Vl
Die Autonomie der Akademie der Künste, die sich in der Autonomie der FMP bei den Workshops fortsetzt, ist ein republikanischer Glücksfall. Es scheint Zufall, hat aber fortschrittliche Konsequenz. Es ist noch die Ausnahme. Der Rundfunk fungiert mittlerweile als Mäzen. Die Freiheit, andererseits, muss Tag für Tag erkämpft werden. Geschenkte Freiheit ist Abhängigkeit und widerspricht dem aufrechten Gang.

VII
FAN Endlich! L'lmagination prend le pouvoir!
Die VERÄCHTER Was für'n Ding?
FAN Die Phantasie, Mensch. Die Freiheit. Weite im Kopf. Basie hat ausgedient.
VERÄCHTER Hättste wohl gern, Spinner. Die können ja nicht mal'n richtiges Solo blasen. Die bringen ja alles durcheinander. Reinste Anarchie. Naja, kein Wunder, löst sich ja alles auf heutzutage. Gefährlich, sage ich Dir, gefährlich! Hör Dir das doch an! Kein richtiges Thema, kein richtiger Swing, klingt alles falsch. Wo kann man sich denn da noch festhalten?!
FAN Am Whisky, wie? Oder am Bier? Mann, Du hast'ne Ahnung. Endlich zieht die Demokratie in die Musik ein - und Ihr klebt noch an den autoritären Verhältnissen. Dieses ewige Getrotte von Rhythmusgruppe und stundenlangen Chorussen, langweiligen Riffs und schnell durchschaubaren Arrangements: und über allem ein Fingerzeig Basie's: da geht's lang - oder das Klimperdiktat von Peterson.
VERÄCHTER Ich schmeiß Dir gleich die Flasche wohin. Kannst Du überhaupt swingen? Hast Du denn ein Gefühl dafür? Ne, wie? Muss alles extrem schwierig sein, wie? Intellektuellen-Puzzle, was? 11/8 Takt oder 3/4 über 4/4 unter 9/5. Und gleich zwei Bässe und zwei Schlagzeuger auf einmal. Die können ja nicht mal einzeln richtig „AII of me" hinlegen. Statt dessen Getöse, keine richtigen Töne mehr, kein Play-Dirty, kein Djungle, keine Spannung auf der Blue-Note. Kein Rhythmus. Kollektiv nennt sich der Quatsch. Und politisch meinen die das auch noch. Nee, ich sage Dir, mit Charlie Parker war der Jazz zu Ende. Coltrane war der Abstieg.
FAN Mit Coltrane fings erst an. Alles andere war erst die Vorgeschichte des Jazz.
VERÄCHTER Typisch. Linke Frust-Musik ist das, der Free Jazz. Ihr seid doch hoffnungslos isoliert. Avantgarde….
FAN Jawohl, Avantgarde! Musikalisch, und politisch auch'n bisschen. Ist das etwa zufällig, dass die Emanzipation der Schwarzen in den USA ihr musikalisches Pendant in der New Yorker Avantgarde fand? 1964? Die nannten das sogar die „Oktober-Revolution" des Jazz. Ist LeRoi Jones etwa ein Ignorant? - Aber so einem Finger-Schnipp-Fetischisten wie Dir muss man ja erst mal sagen, was 1917 in Russland los war, und welche Bedeutung die schwarzen Schriftsteller haben. Cleaver, James Baldwin ...
VERÄCHTER Mann, was hat denn das mit dieser chaotischen „Musik" zu tun? Wenn ich nach meinem Büro nach Hause komme oder in den Jazz-Club gehe, dann lege ich keinen Wert auf die Anatomie meiner Eingeweide oder meines Gehirns, Junge, dann will ich's nicht mehr schwierig, dann will ich's, genauer gesagt, einfach.
FAN Mit Spießern ist keine Welt zu gewinnen. Im Übrigen ist die Avantgarde, im temporeichen Jazz besonders, immer erst mal isoliert. Zwanzig Jahre später nimmst auch Du sie im Stamm Club oder im Ohrensessel als normal zur Brust. Aber wer stehen bleibt, geht nichtweiter. Alte gotische Weisheit.
VERÄCHTER Du bist ein arrogantes Huhn. Eure Avantgarde hat nur eine Bedeutung: sie wird als Minderheiten-Erscheinung in den Kultur-Seiten der Zeitungen zur musikalischen Hauptsache hochgejubelt. Ich les' das Zeugs erst gar nicht. Ich brauch' keine öffentliche Anweisung für meine Lustgefühle bei Dizzy.
FAN Na hör mal! Im Fortschritt ist immer mehr Erkenntnis als in der Wiederholung des Bekannten, nach 24 Zwölfer-Chorussen zum Beispiel. Ornette Coleman hat – nebenbei - mit New Orleans mehr gemein, Charles Mingus mit Ellington, Freddie Hubbard mit Ziggy Ellman mehr gemein, als Dir lieb sein kann. Komm mal runter von Deinem hohen Traditionsross. Das Letzte war noch allemal das Vorletzte. Ich möchte nicht wissen, was Du mit Klischees in Deinem Leben machst, wie Du regierst, wenn Deine Frau immer dieselben Verhaltensweisen an den Tag legt.
VERÄCHTER Jetzt gehst Du zu weit.
FAN Pardon! Aber Du hast die Avantgarde begriffen, ohne dass Du's weißt.

VIII
Nach 10 Jahren Fortschritt und Avantgarde um fast jeden Preis könnte sich - neben ästhetischen Gruppen-lnzucht-Syndromen - einstellen, was Adorno/Horkheimer bezüglich der Dialektik der Aufklärung sagen: dass das Vorpreschen auf die Aufklärenden selbst totalitär und zerstörerisch zurückwirkt. Auch scheint eine industrie - unabhängige Musiker - Genossenschaft, eine erklärte Non - Profit - Vereinigung, schizophren sich zu verhalten, wenn sie sich im Vertrieb an einen Schallplatten - lndustriezweig, den der B ellaphon - lmport - Gesellschaft, anhängt. Es ist aber bisher nicht erwiesen, daß bei der notwendigen Entwicklung von ästhetisch - ökologischen Nischen eine nicht - kapitalistische Vorstellungswelt von Avantgarde - Musikern zu Bruch geht. Musik in ihrem utopischen Kern wird erst wahrer, wenn sie bereits im Leben von Menschen für Menschen verwirklicht wird - und nicht erst ihre Offenbarung in Pantheons und Ewigkeiten erfährt. Es ist nie abgeschlossen, es sei denn gewalttätig. Es entspricht dem Leben. Work in progress .. ...

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