For Example/Workshop Freie Musik - 1969-1978

Wolfgang Burde (1978)

Materialien zum europäischen Free Jazz

Neue Musik und Jazz

Das Interesse der Neuen Musik am Jazz ist fast so alt, wie sie selbst. Claude Debussy beispielsweise schreibt im Jahre 1908 einen Klavierzyklus "Children's corner" und schließt ihn mit "Gollywoog's Cakewalk" ab, einem pointenreichen Nachfahren der ersten negerischen Klaviermusik, des Ragtime. Jean Cocteau, der Vertraute des Musikerkreises um Erik Satie und Freund der Musiker der "Groupe des Six", schreibt in seinem Aphorismus-Bändchen "Hahn und Harlekin" im Jahre 1918:

"Wenn Nietzsche Carmen lobt, so lobt er die Freimütigkeit, die unsere Generation in der Music-Hall sucht. Was zum Beispiel die impressionistische Musik hinwegfegt, ist ein bestimmter amerikanischer Tanz, den ich im Casino de Paris gesehen habe."

Cocteaus Freunde, Milhaud und Auric, schreiben Stücke in Jazz-Manier. Und Igor Strawinsky fügt seiner "Geschichte vom Soldaten" aus dem Jahre 1918 nicht nur Tango und Ragtime ein, sondern entwirft im "Ragtime" für ein Ensemble von 11 Instrumenten aus dem Jahre 1919 eine Art Portrait-Typ der neuen Negermusik. Grundlage dieser und weiterer Arbeiten aber waren nicht nur Stapel von Jazz-Noten, die ihm sein Schweizer Dirigenten-Freund Ernest Ansermet aus New York mitgebracht hatte; Strawinsky besaß auch die eben, im Jahre 1917 bei Victor, erschienenen ersten Aufnahmen der "Original Dixieland Jass Band". Später folgen die berühmte "Piano-Rag-Music" und das "Ebony Concerto", das Strawinsky im Jahre 1945 für Woody Herman und seine Band schrieb.

In Deutschland nimmt Paul Hindemith gelegentlich, etwa in der "Suite 1922", den rüden Jazzton auf, und der junge Ernst Krenek widmet dem Jazz-ldiom gar eine ganze Oper: "Jonny spielt auf". Arbeiten von Kurt Weill, darunter die "Dreigroschenoper" und "Mahagonny", übernehmen den Sound der Jazz-Orchester der späten zwanziger Jahre. Formen der Tanzmusik der Zeit wie Boston, Shimmy, Gesangsformen wie Song und Blues prägen diesen neuen Weillschen Operntypus bis ins Detail. "Mack the knife" oder wie die Ballade im Original hieß, "Moritat vom Mackie Messer", wurde nicht zuletzt durch die Interpretation Louis Armstrongs zum internationalen Jazz-Hit.

Zu übersehen ist freilich nicht, dass die Komponisten der Neuen Musik vor allem von der neuen, als antiromantisch empfundenen Gestik des Jazz fasziniert sind. Diese freche, pathoslose Kunst und die Aura von Verruchtheit, die sich um die europäischen Music-Halls und Dancings bildete, wurde von den jungen Neoklassizisten als Chance empfunden, der übermächtigen deutschen romantischen Tradition zu entfliehen. Mit Hilfe der Jazz-Gestik und der einfacheren Jazz-Formen war schlankeres Musizieren und vor allem die Entwicklung einer ganzen neuen Skala von Ausdruckscharakteren, bis hin zur Persiflage, möglich. Mit musikalischem Pokerface und im Gewande einer die Attitüde des Understatement pflegenden neuen Sachlichkeit konnte ätzende Zeitkritik transportiert werden. Hanns Eisler beispielsweise hat solche Ausdrucksmöglichkeiten der Jazzsprache in vielen seiner Arbeiterlieder genutzt. Besonders deutlich etwa in der "Ballade von den Säckeschmeißern" und in der "Ballade vom Neger Jim", die beide 1930 entstanden. Und es ist ein interessanter Widerspruch, dass Eisler später, in den fünfzigern, in Gesprächen über den Jazz sich eher mit Skepsis, wenn nicht gar mit kaum verhohlener Verachtung äußerte. Jazz war Unterhaltung, langweilige, routinierte dazu. Und in solcher Überzeugung traf er sich nicht zuletzt mit Theodor W. Adorno. Beide Musiker redeten freilich über den Jazz nachdem sie in der amerikanischen Emigration vor allem Erfahrungen mit dem Swing gemacht hatten, dem kommerzialisiertesten aller Jazz-Stile. Das wird bei der Beurteilung solcher jazzfeindlichen Statements, die bei Adorno in den "Dissonanzen" zur musiksoziologischen Position hochstilisiert wurden, leicht übersehen.

Weder bei Strawinsky, noch bei Eisler konnte allerdings von einer wirklichen Integration der musikalisch-kompositorischen Mittel des Jazz und der Neuen Musik die Rede sein. Diese Integration, diese intensivere Verfransung von Jazz und Avantgardemusik konnte erst möglich werden, als beide Musikformen in vielfältigen, revolutionären Verwandlungsprozessen sich so verändert hatten, dass sie in der Tat eine vergleichbare Sprache zu sprechen begannen.

Verfransungen von Jazz und Avantgarde

So öffnete sich Neue Musik am Ende der fünfziger Jahre allmählich improvisatorischen Prozessen. In die durch Reihen definierten Kompositionen wurden Chancen der Freiheit, sogenannte "Aleatorische Strukturen" eingefügt, nicht festgelegte Zeitstrecken, hier durften die Instrumentalisten zwar zunächst nicht einfach improvisieren, sie hatten aber Wahlmöglichkeiten im Rahmen der musikalisch-materialen Konstellationen, die der Komponist zur Verfügung stellte. Darum hat man zu Recht auch von gelenktem Zufall gesprochen. Die Freiheit der Instrumentalisten, die erstmalige Öffnung des festgelegten kompositorischen Verlaufs war also überaus eingegrenzt. Einerseits gab es Entweder-Oder-Entscheidungen, andererseits die Möglichkeit auf ein meist labyrinthisches Gefüge von Spielanweisungen zu reagieren. Die Resultate solcher aleatorischen (Alea, lat. Würfel) Arbeit waren indes kaum besonders auffällig. Denn die Instrumentalspezialisten, die solche Freiheitsräume ausfüllen sollten, produzierten ohnehin meist Strukturen, die sich nahtlos in den komponierten Zusammenhang fügten.

Folgenschwerer für den Jazz der sechziger Jahre waren eine ganze Zahl von neu entwickelten musikalischen Charakteren die später, im Verlauf der Sechzigerjahre, sowohl von europäischen Gruppen des Free Jazz, der Freien Musik, wie von Improvisations-Ensembles der Avantgarde genutzt wurden: Punktuelle und statistische Strukturen, Klangfarben- und Geräuschbänder und das, was als serielle Gestik bezeichnet worden ist. Grundsätzlich ist freilich dabei zu bedenken, dass die Improvisations-Ensembles ohnehin mehr das Gestische der Neuentdeckungen nutzten, und weniger die ursprünglich vorhandene kompositorische Konsequenz und Logik der Sache aufnahmen.

Serielle Musik

Als am Beginn der fünfziger Jahre die Komponisten der jüngeren Generation - Boulez, Nono, Stockhausen - nach ausführlichen Analysen der Werke Schönbergs, Weberns und Messiaens daran gingen den Reihenbegriff auf die vier Dimensionen des Tons auszuweiten, Tonhöhen-Reihen, Dauer-Reihen, solche für Dynamik und Klangfarbe zu einem Reihengeflecht zu integrieren und die Komposition strikt von solchem Reihenvorrat her abzuleiten, begann man auch sich in solchen Kompositionen nach DICHTEGRADEN und REGISTERN zu orientieren.

Punktuelle Struktur - Statistische Struktur

Ein mengenmäßig ungewöhnlich dichtes Gefüge, in dem die Tonereignisse pro Zeiteinheit so schnell oder "harmonisch" so dicht bei einander lagen, dass sie nicht mehr durchhörbar waren, wurde Statistische Struktur genannt. Und ein solches Tongefüge konnte nach statistischen Methoden auf größere oder geringere Informations-Dichte hin analysiert werden. Punktuell aber wurde eine Struktur genannt, in der die Tonereignisse zwar noch einzeln durchhörbar und auffassbar blieben, deren einzelne "Toneinschläge" aber wegen der Größe des Klangraums und der Weite der intervallischen Distanzen zu einer merkbaren Vereinzelung der Tonereignisse führte. Beide Setzweisen aber, punktuell oder statistisch, schufen ein ganz eigenes, so vorher kaum erlebtes Zeitgefühl. Da der traditionsreiche Akzentstufentakt außer Kraft gesetzt wurde, die Orientierung am Metrum, an irgendeiner Pulsation wegfiel, schien die Zeit zu gleiten, schien nunmehr in Zeitexpansionen und Zeitkontraktionen komponiert oder in übereinander kopierten Zeitfeldern von jeweils verschiedenem Tempo, also asynchron, artikuliert zu werden. Stockhausens Bläserquintett "Zeitmaße" (1956) setzte hier völlig neue Maßstäbe.

Klangfarbenkomposition

Je intensiver die Komponisten im Verlauf der fünfziger Jahre an der Durchrationalisierung ihres kompositorischen Metiers arbeiteten, um so mehr bereitete ihnen die bemerkenswerte Unvorhersehbarkeit der kompositorischen Erscheinung und vor allem der klanglichen Resultate Schwierigkeiten. György Ligeti, der ungarische Komponist war der erste, der auf das Problem der Permeabilität aufmerksam machte, der Durchlässigkeit von übereinander kopierten Linien oder Klangkomplexen gegeneinander. Das vereinzelt Gesetzte hatte unter bestimmten Bedingungen die Tendenz in einen Klangkomplex zu verschmelzen: besonders auffällig bei zu hoher horizontaler oder vertikaler Dichte.

Ligeti und nahezu zeitgleich Penderecki waren die beiden Komponisten, die aus solchen Destruktionstendenzen der Seriellen Musik radikale Konsequenzen zogen und das damals nahezu Undenkbare leisteten: sie gaben auf mit Reihen zu komponieren und strukturierten Klang, Klangfarben, Geräusch und Geräuschfarben direkt, ohne dem Umweg reihen mäßiger Organisation.

Was geschah, kann man auch als Elementarisierung von Komposition bezeichnen. Ich nenne es elementarisieren, weil nicht zu leugnen ist, dass Klangfarbenkomposition und Geräuschfarbenkomposition in ihrem Ansatz mit Makrostrukturen umgingen, mit noch nicht ausdifferenzierten Farb- und Geräuschkomplexen, mit Ganzheiten also wie auf tachistischen Bildern, die erst im Verlauf der sechziger Jahre einem zunehmenden Differenzierungsprozess unterworfen wurden. Und in der Tat wurden Stücke wie Ligetis "Apparitions" und Pendereckis "Anaklasis" - 1960 in Donaueschingen uraufgeführt - als elementare Ereignisse empfunden, wie später vielleicht "Ascension" von John Coltrane oder "Globe Unity" von Alexander von Schlippenbach.

Zu "Anaklasis" schrieb Josef Häusler:

"Alles an der Partitur wirkte neu und unerhört. Das begann schon beim Schriftbild. Neben Zeichen der herkömmlichen Notenschrift traten graphische Gebilde, denen man auf einem Partiturblatt bis dahin selten oder nie begegnet war: Balken unterschiedlicher Breite, Wellenlinien, Pfeile in verschiedenen Richtungen, die sowohl Tonhöhenverläufe wie Tempobewegungen andeuteten; zahlreiche weitere Symbole geben genaue Anweisungen für gebräuchliche, öfter aber ungewöhnliche Arten der Klangerzeugung auf Streich- und Schlaginstrumenten: schnelles, unrhythmisches Tremolo, unregelmäßige Bogenwechsel, Spiel zwischen Steg und Saitenhalter, unbestimmte, von hohen in höchsten Lagen, schlagzeugartige Klangeffekte auf Streichinstrumenten".

Die graphische Notationsweise führte freilich auch zu lebendigerem, spontanerem Musizieren. Die rauere Intonations- und Artikulationsweise dieser Musik - weg vom Belcanto-Gesang der Streicher und Bläser - gab dieser Musik andererseits eine neue Geschmeidigkeit und Beweglichkeit; andererseits aber auch Farbigkeit und aggressive Durchschlagskraft, wie sie zuvor allenfalls bei Edgar Varèse zu erleben gewesen war. Diese Tendenz zum großen Klang, zu einem musikalischen Vokabularium eher grobkörniger Struktur, hatten Neue Musik und neuer Jazz nun gemeinsam. Und hinzukam, dass die seit Jahrzehnten vermisste Spontaneität der Neuen Musik nun, auf dem Umweg über aleatorische Strukturen und ungefähre, graphische Notationsweisen, in die Aufführungspraxis eingeschmuggelt worden war.

Free Jazz-Gruppen - Ensemble-lmprovisation

Mitte der Sechzigerjahre entstanden im Umkreis der Avantgardeszene dann Improvisations-Ensembles, deren Spontaneität und Kreativität denen der Free Jazz-Gruppen durchaus vergleichbar war. Was sie unterschied, oft kaum mehr wahrnehmbar, war das Musizierideal. So reiste Stockhausen mit seinem Kölner Ensemble durch die Welt. Die Musiker hatten gelegentlich wie in Stockhausens "ln den sieben Tagen" nur Texte auf ihren Notenpulten. Etwa: Ein Ton lebt wie DU, wie ICH, wie ER, wie SIE, wie ES. Bewegt sich, dehnt sich aus und schrumpft zusammen. Verwandelt sich, gebiert, zeugt, stirbt, wird wiedergeboren. Sucht - sucht nicht - findet - verliert - verbindet sich - liebt - wartet - eilt - kommt und geht. Andere Gruppen, wie die des italienischen Komponisten Franco Evangelisti, "Nuova Consonanza", feilten an Strukturen, mit denen dann während der Improvisationsprozesse umgegangen wurde. Cornelius Cardew und sein Scratch Orchestra bevorzugte Geräuschfarben, Vinko Globokar, der Avantgarde-Posaunist, gründete die ausgezeichnete Gruppe "New Phonic Art", die freie Musik machte, ganz ähnlich auch wie die Gruppe "lskra 1903", deren Musik zwischen Freier Musik und Free Jazz changiert. Nachdem der Jazz seine Sonderstellung, improvisierte Musik zu sein, eingebüßt hatte, wurden die Grenzen zwischen Jazz und Avantgardemusik also fließend. Und tendenziell ist es bis heute so geblieben.

Die Gruppe "Blow" beispielsweise, die während des "Workshops '77" in der Berliner Akademie zu hören war, ist weder als Free Jazz noch als Freie Musik endgültig abzustempeln. Und tendenziell gilt das für viele Gruppen. Musiker wie Keith Jarrett, vielleicht sogar Cecil Taylor, den ich für den größten Pianisten der Klangfarbenkomposition halte, sind so sehr mit traditionellen und Avantgardetechniken vertraut, haben sich soweit auch vom traditionsreichen Jazz entfernt, dass ihre alleinige Zuordnung als Jazzmusiker absurd scheinen mag. Umgekehrt: Terry Riley, einer der bedeutendsten Pianisten der "Minimal Art" -Szene, kam ursprünglich vom Rock her.

Das vermittelnde Medium zwischen Avantgardemusik und Free Jazz wurde Improvisation. Wurde freilich auch ein Vokabularium, das vergleichbar ist, das ähnliche Strukturen und ähnliche Ausdruckscharaktere produziert und von dem noch ausführlicher die Rede sein wird.

Vermittlung zwischen Komposition und Improvisation

Im Jahre 1971 schrieb Penderecki für die Donaueschinger Musiktage eine Jazz-Komposition mit dem Titel "Actions", die vielleicht nicht vergleichbar ist mit Arbeiten aus dem Umkreis des Tentetts um Misha Mengelberg, des Globe Unity Orchestra oder des New Eternal Rhythm Orchestra um Don Cherry. Als Symptom einer Annäherung von Neuer Musik und Free Jazz aber immerhin interessant genug, um erwähnt zu werden.

Der Titel deutet auch auf die Machart des Stückes. Nicht Themen bilden die Grundlage der Komposition, sondern "Actions", spielerische Aktionen, die weitergeführt, weiter getrieben werden, die allmählich in Improvisation überführt werden. Befragt, was ihn denn daran gereizt habe mit Jazz-Musikern zusammenzuarbeiten, gab Penderecki in einem Interview folgende Auskunft:

"Die Möglichkeit, mich überhaupt einmal mit einer anderen Mentalität von Musikern zu befassen - das hat mich fasziniert und interessiert. Ich versuche, die Improvisation in bestimmte Bahnen zu lenken, denn selbstverständlich sollen die Musiker nicht einfach spielen, was sie wollen. Ich habe also ein ganz normales Stück komponiert, wie ich es sonst für eine Gruppe oder ein Ensemble auch geschrieben hätte. Nur kann ich in diesem Fall mit unbegrenzten technischen Möglichkeiten rechnen, weil man ja weiß, dass die Jazzmusiker viel mehr mit extremen Spieltechniken operieren als die Orchestermusiker, und weil sie die Improvisation schon im Blut haben. Wenn ein Orchestermusiker, der dreißig Jahre im Orchester spielt, plötzlich improvisieren soll, ist er dem überhaupt nicht gewachsen. Er muss umlernen, was die Jazzmusiker nicht zu tun brauchen; für sie ist das Improvisieren leicht, sie machen es ganz natürlich ..."

Jazz und Neue Musik, improvisierte und komponierte Musik sind im Augenblick, sind gegenwärtig wieder dabei sich stärker voneinander zu lösen, sich voneinander abzusetzen. Für ein historisch gewordenes Jahrzehnt aber - zwischen 1965 und 1975 - hielten beide Musik- und Musizierformen ungewöhnlich engen Kontakt miteinander. Und ein spätes Resultat dieser musikalischen Kontakte ist "Actions" von Penderecki.

Was aber geschah im neuen Jazz, in den Jahren nach der Swing-Ära, in den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren. Der Jazz überwand seine Phasen der Irritation, die Bebop-Phase, die Cool-Jazz-Phase und stürzte sich in den freien Jazz. Die harmonischen Schemata und Begrenzungen, wie sie durch die Jazz-Formen Blues und Song etabliert waren, fielen.

Der Jazz befreite sich von der Form-Routine der Choruspraxis und reinigte sich grundsätzlich von seiner Thema Abhängigkeit. Von den zwölftaktigen oder zweiunddreißigtaktigen Themen des Jazz blieb im Free Jazz nichts anderes mehr übrig als die Vorstellung der Jazzmusiker von einem spezifischen Ausdrucksraum und Klangraum, den sie gestalten und gestaltend variieren wollten. In den Sechzigern, sowohl in Coltrane's "Ascension", wie in Schlippenbachs "Globe Unity" oder "Sun" spielen Jazzthemen im traditionellen Sinne so gut wie keine Rolle mehr. Beide Stücke - oder besser Jazzprozesse - sind im Kollektiv erarbeitet.

Kollektiv-lmprovisation

Nicht das Solo dominiert, sondern, wie im frühen Jazz, die Kollektivimprovisation. Und das ist durchaus auch als sichtbares Zeichen eines neuen musiksozialen Gefühls zu verstehen. Die Elementarisierung des Jazz, sein Neoprimitivismus, wie seine neue eruptive Kraft entstanden zunächst aus der Gemeinschaft, wuchsen aus dem Gemeinschaftsgefühl des Musiker-Kollektivs heraus. Nicht der Heroin- oder Haschtrip des Jazz-Einzelkämpfers, des ruinös genialen Solisten prägte diese Musik, sondern das Gefühl einer neuen Solidarität. Das Gefühl auch gegen die versteinerten Strukturen gesellschaftlicher Konventionen nur in gemeinsamer Aktion überhaupt etwas ausrichten zu können.

Weltmusik

Jazzmusiker und Avantgardemusiker zeigten sich zudem fasziniert von den Musizierformen und den Bewusstseinsformen, wie sie in der Außereuropäischen Musik sichtbar wurden. Indische, afrikanische und arabische Musik wurde nun in Europa und Amerika nicht nur immer öfter gespielt, sondern auch von den Musikern in Kompositionen und Jazzprozessen adaptiert. Im Verlauf der sechziger Jahre entstand so allmählich und durchaus folgerichtig die Vision einer "Weltmusik", in die alle je denkbaren und aktuellen ethnozentrischen Errungenschaften der musikalischen Vokabularien einzuschmelzen wären; und das gälte für kompositorische Formen ebenso, wie für die gerade in der außereuropäischen Musik so typischen Improvisationsformen. Vorstellungen von Musik entstanden, vergleichbar denen, wie sie Peter Michael Hamel, Komponist und Gründer der Gruppe "Between" im Jahre 1971 formulierte:

"Between heißt die Zwischenwelt, in der Between-Musik stattfindet. Between-Musik ist Kollektiv-Musik, intuitive Musik. Between-Musik ist Stegreif-Komposition. Sie findet statt zwischen "Philharmonie", "Avantgarde" und "Jazz". Die sechs Between-Musiker stammen aus zwei Erdteilen und drei Welten. Ihr Traum ist die blaue Blume zwischen den Meilensteinen auf dem Weg zu einer künftigen Weltmusik."

Globe Unity

Im Jahre 1966 schrieb der Kölner Pianist und Komponist Alexander von Schlippenbach für die Berliner Jazztage und im Auftrag des Rias "Globe Unity", ein Stück für Jazz-Orchester. Es war aus der Zusammenarbeit und der kollektiven Improvisation von vierzehn europäischen Jazzmusikern herausgewachsen und wurde emphatisch begrüßt als ein Werk, in dem endlich die lange herbeigesehnte Verschmelzung von Jazz und Kunstmusik gelungen sei. In der Tat liegt "Globe Unity" eine vor allem in Terzen organisierte zwölftonige Reihe zugrunde und unüberhörbar ist auch die kompositorische Organisation des zwanzigminütigen Prozesses. Wichtiger noch war aber wohl der neue Ton des Werkes, war seine Unabhängigkeit von amerikanischen Vorbildern, war die Tatsache, dass der europäische Free Jazz eine eigenständige Basis gefunden hatte oder doch jedenfalls einen tragfähigen Anfang.

Man mag skeptisch sein, ob in diesem Werk Avantgardemusik und Jazz wirklich integriert wurden, miteinander eine neue Einheit eingingen. Unleugbar ist indes, dass in diesem historisch ersten Stück ein neuer Ausdrucksraum erobert worden war, der für die weitere Geschichte der europäischen Jazz-Szene weitreichende Folgen hatte.

Mit "Globe Unity" war für eine gewisse Zeit das Interesse am amerikanischen Jazz und die über sechzigjährige Abhängigkeit von den Innovationen ausschließ - schwarzer oder weißer - amerikanischer Jazzmusiker zunächst einmal gebrochen. Die jungen europäischen Musiker zerstäubten die Traditionen des Jazz, die harmonischen Modelle, die Choruspraxis, die Beatabhängigkeit, die üblichen Spielweisen und Artikulationsweisen, mit einer wegwerfenden Gebärde, die aufhorchen ließ. Und ihre Arbeit schien um so legitimer, europäischer, wahrhaftiger, als die auffahrende Gestik der kollektiven Ausbrüche und die Zügellosigkeit der hemmungslos sich verausgabenden Soli zugleich den revolutionären Zeitgeist zu formulieren schien. Eine grundsätzlich aufrührerische, Konventionen verachtende, den Staat, so wie er in dreißig Jahren gewachsen war, radikal in Frage stellende Mentalitätslage, die sich in vielfältigen studentischen Aktionen am Ende der sechziger Jahre ausdrückte. Bevor die Strukturen und Jazz-Charaktere von "Globe Unity" analysiert werden, hier zunächst der Kommentar, den Schlippenbach der Schallplatte (SABA SB 15109) mitgab:

"Kugelgestalt der Zeit: das bedeutet eine Welt universaler musikalischer Beziehungen. Spieler und Komponist, im Jazz seit jeher in der gleichen Person vereint, schaffen komplexe Beziehungen, deren erstes formales Gesetz UNITY ist. Das kosmische Auge im Mittelpunkt und an der Peripherie der Kugel sieht die Strukturen gleichzeitig von allen Seiten. Aus der göttlichen Gleichgültigkeit der Kugel schießen die Soli mit dem Gestus der Revolte. Sie ziehen ihre Bögen nach dem Abbild des Lebens. Rhythmus ist der Atem der Welt. Der Klang ist Feuer, Wasser, Erde und Luft. Hinter seinem farbigen Schirm phosphorisziert eine Gestalt in reiner, unverletzlicher Schönheit.

Diese Musik ist das Werk des Orchesters. Vierzehn europäische Musiker der jüngsten Jazz-Generation haben mit bewundernswerter Disziplin und vollstem Einsatz ihrer Kräfte die Idee, freitonalen Jazz mit einem großen Orchester zu spielen, verwirklicht. Sie haben in ihrer Reaktion auf die Partituren, die fast ausschließlich aus nach bestimmten Prinzipien und Schlüsseln gebundenen Improvisationsanleitungen bestanden, feinstes musikalisches Einfühlungsvermögen bewiesen. Sie haben den neuen Klängen nachgehorcht und ihre Kraftfelder ausgeleuchtet. Sie haben durch ihre Fähigkeit, graphisch notierte Strukturen zu erfassen, mit Tonvorräten und Intervall-Dispositionen zu improvisieren, wie auch streng geschriebene Sätze und gänzlich frei zu spielen, für solche Orchester eine Welt faszinierender Möglichkeiten aufgezeigt. Mit einem solchen Orchester, in dem sich der Geist jedem musikalischen Untertanentum entgegenstellt, wird möglich, was Paul Klee gesagt hat: ,Man verlässt die diesseitige Gegend und baut dafür hinüber in eine jenseitige, die ganz Ja sein darf."

"Timing" von "Globe Unity"

"Globe Unity" ist ein Prozess von 20' 12". Deutlich treten sechs Strukturen hervor, die den zwanzigminütigen kompositorisch-improvisatorischen Prozess gliedern.

EINLEITUNG

"Globe Unity" setzt mit Schlagzeug-Aktionen ein, mit flirrendem Klavierspiel und kreisenden Terzenrufen der Solisten um b.

ERSTER MATERIAL-BEZIRK

1'00'' Das Klavier beginnt mit einer aus dem tiefen Register aufsteigenden akzentuierten chromatischen Skala, die allmählich vom Orchester aufgenommen wird: auf und absteigend. Dieser Material-Komplex wird später (6'40") eine ganze Struktur beherrschen. Das Orchester gruppiert sich um den Zentralton b. Plötzliche Umstrukturierung in die hohe Lage, Saxophon stößt sich von as ab.

ZWEITER MATERIAL-BEZIRK

2'30" Das Orchester wird zu Klang-Blöcken zusammengefasst, zu zweimal zwölf Akkorden (Orchesterpedal). Darauf folgt das erste, groß ausgesponnene Saxophon-Solo: Bevorzugung extremer, hoher Lage, so schnell wie möglich ausgespielte Phrasen, die atmen, trotz aller Rasanz und Geräuschnähe abgerundet sind, swingen. Allmählich wird unter dieses weit gesponnene Saxophon-Solo ein Kontrapunkt des Klaviers geschoben, der die Akkordblöcke (Material 2) zitiert. Das Orchester greift die Blöcke auf, die jetzt auch nachschlagend, verzahnt exponiert werden. Schreiendes, japsendes, schreiend-sprechendes Ende des Saxophon-Solos, "rollendes" Schlagzeug tritt hervor.

DURCHFÜHRUNG

6'40" (Glockenzeichen). Auf und absteigende chromatische Skalen nach Instrumental-Gruppen organisiert: Saxophon-Gruppe, Blechbläser-Gruppe, Holzbläser-Gruppe, Trompeten-Gruppe. Es entstehen Mischungen der Gruppen, Wechsel im Zusammenspiel, hörbar werden auch solistische Linien der Saxophone.

10'00'' Cornett-Solo: Terzenrufe (Einleitung), dann schnell gleitende, auf und ab jagende Linien von großer Geschmeidigkeit, eigentümlich schwebend. Im Hintergrund bauen sich Orchesterstrukturen auf, die metallisch klingen, das Orchester als großes Schlagzeug, von Tonrepetitionen wie Morsezeichen, von tickenden Motiven durchlöchert. Die Strukturen erinnern an Stücke von Edgar Varese, an "Arcana", an "lonisation". Signale, immer wieder riff-ähnliche Einschübe.

13'00'' "Chaos"-Struktur. Nur statistisch, als Statistische Struktur wahrnehmbare Punkte im Tonraum, kontrapunktiert, grundiert, von der zwölftonigen Reihe, die im tiefen Register in der Tuba zu hören ist.

15'00'' dumpfes, rollendes Schlagzeug-Spiel.

15'30" Klavier-Solo: Schlippenbach benutzt so schnell wie möglich artikulierte, durch die Register hetzende Klavier-Cluster unterschiedlicher Bandbreite. Er setzt aber auch Beat-Akzente, setzt Cluster-Blöcke präzis in die Zeit. Hörbar werden auch Entwicklungen, die an Cecil Taylor erinnern: flirrende, aus- und überschwappende Klangbänder.

Dieser Teil des Improvisations-Prozesses wuchert nun allmählich immer mehr aus, löst sich mehr und mehr in Einzelaktionen der Gruppen und einzelner Instrumente auf: Kontrabasseinwürfe, gestoßene Einzeltöne und mündet schließlich ein in mehrere Schläge des gesamten Orchesters.

20'12'' Ende

Damals, 1966, wurde an "Globe Unity" die staunenswerte Balance zwischen Komposition und Improvisation hervorgehoben. In der Tat aber war in diesem Stück in kondensierter Form das gesamte Repertoire an neuer Jazz-Gestik und an neuen Ausdruckscharakteren enthalten, das im Verlauf der nächsten Jahre von der europäischen Free Jazz-Szene entfaltet und ausgebeutet werden würde.

Nach "Globe Unity" wurden zwanzigminütige, dreißig oder gar vierzigminütige Improvisationsprozesse für eine zeitlang selbstverständlich. Jazz-Themen traten immer mehr in den Hintergrund, die Prozesse wurden immer freier, immer weniger organisiert und erreichten, etwa in Peter Brötzmanns "Machine Gun" (FMP 0090), Intensitätsgrade wie von Explosionen, waren Ausbrüchen von Naturgewalt vergleichbar. Was einst, in der Avantgarde-Musik, einigermaßen penibel als punktuell oder statistische Struktur ausgearbeitet worden war, wurde jetzt von den Jazzmusikern wahrhaft zu sich selbst gebracht: als Prankenschläge, als kaum mehr nur musikalisch fassbares und auffassbares "Chaos", als exterritorialer Randbezirk in dem Wildheit und Magie herrschten. Eine Lust an Klangausschüttungen wurde hörbar, an dynamischer Verausgabung auch, die die gleichzeitigen Bemühungen des Rock als zwergenwüchsig denunzierte.

"Europäischer" Free Jazz

Free Jazz damals, in dieser ersten Aufbruch-Phase zwischen '66 und '70 war weder mit amerikanischem Free Jazz vergleichbar - dazu war er von allen amerikanischen Mustern allzu weit emanzipiert und nicht "intellektuell" genug, um etwa der Chicagoer-Schule (Braxton) nahezu sein - noch mit den Geräuschfarben Kompositionen Pendereckis. Und dennoch war kaum leugbar, dass Schlippenbach und Brötzmann ohne die Erfahrung von Pendereckis "Anaklasis" oder "Hiroshima", ohne die Kenntnis der Klangfarben-Kompositionen Ligetis, etwa "Apparitions" oder "Atmospheres" so nicht denkbar sind.

Emanzipation der Dynamik

An "Globe Unity" und "Machine Gun" fiel aber nicht nur ihre Emanzipation von Jazz-Schemata auf, von der swingenden Gemütlichkeit des "Go-go", sondern auch ein gänzlich anderes Verhältnis zur Dynamik. Wie in der gleichzeitigen Rock-Musik erreichte die Skala der Dynamik eine kaum je für möglich gehaltene Ausweitung. Und es stellte sich heraus, dass Dynamik in diesen Improvisationsprozessen nicht mehr akzessorisch, also unterstreichend oder verdeutlichend funktioniert. Die neuen Charaktere, die neuen Inhalte des europäischen Free Jazz waren ohne jene auswuchernde Skala an Dynamik gar nicht darstellbar, sie gehörte essentiell zu ihnen. Nach der Expansion und Emanzipation der Dauer - auch ein neues Zeitgefühl gehört zum Free Jazz - konnte also sinnvoll von einer Emanzipation der Dynamik gesprochen werden. Und nach der bereits vollzogenen Emanzipation der Klangfarbe als Ausdrucksmedium des Jazz, war damit auch die dritte wichtige kompositorische Dimension im Jazz neu gesehen. Und geht man bis in die kompositorischen Dimensionen hinein und berücksichtigt nicht allein den immer noch differierenden stilistischen Vordergrund, dann enthüllt sich zweifellos das wahlverwandtschaftliche Verhältnis von Avantgarde und Jazz.

Schlippenbach, die Jahre danach

1969 nahm Schlippenbach eine Reihe eigener Arbeiten und solche von Brötzmann und Schoof auf, die als "The Living Music" (FMP 0100) publiziert wurden. Hört man in "Tower" beispielsweise hinein, dann ist zunächst das ungemein elegante Klavier-Entree überraschend, mit dem Schlippenbach sein Stück beginnt. Überraschend auch ein Themaartiges, aus Kurzphrasen zusammengesetztes Gebilde, mit dem der Improvisations-Prozess später wieder abgeschlossen wird. Dazwischen aber, zwischen Entree und Ende, ist Musik hörbar, deren "trommelnde", vorwärts drängende Gesamtgestik unübersehbar ist. Von Schlippenbachs erstaunlich gelösten, rhapsodischen Klavier-Exkursionen abgesehen, hat diese Musik nichts Elastisches oder zur Umstrukturierung, zum Ausdruckswechsel tendierendes. Sie besteht auf der Emphase, auf dem Schrei, sie will buchstäblich durchstoßen, Horizonte aufreißen.

Differenzierung des Jazz-ldioms

Wenig später nur, in der Mitte der siebziger Jahre, hat "Globe Unity", hat Schlippenbach zusammen mit anderen europäischen Musikern die europäische Jazz-Szene staunenswert verwandelt. Man denke an "Evidence" (FMP 0220), an "lnto The Valley." (FMP 0270), oder an "Pearls" (FMP 0380), Aufnahmen von 1975 und an Schlippenbachs Solo-Album (FMP 0430) aus dem Jahre 1977. Davor war eine in ihrer stilistischen Haltung ganz und gar ungewöhnliche Einspielung entstanden, "Bavarian Calypso" (Schlippenbach) und "Good Bye" (Gordon Jenkins), beides Stücke (FMP S 6), die Traditionen ungeniert zitieren: bayerisch-südamerikanische und solche aus New-Orleans.

Was war geschehen und was zeichnet diese Arbeiten aus?

Hört man in "Alexanders Marschbefehl" (Mengelberg) und "Evidence" (Monk-Arrangement Schlippenbach) hinein, dann fällt zunächst einmal die virtuose Verfügung der Jazzmusiker über die zugrunde liegenden Themen und Themenkomplexe auf. "Alexanders Marschbefehl" beispielsweise beginnt mit einer Art Geschwindmarsch, und wie bei einem Ragtime-Potpourri schließt sich daran sehr bald eine Melodie an, die an Schalmeien-Musikzüge erinnert. Der Marsch wird wieder aufgenommen und nun beginnen die Musiker mit dem zentralen Fünfsechzehntel Motiv, einer gestochen repetierten Einton-Figur, zu arbeiten. Was da in kammermusikalischer Feinarbeit im Zusammenspiel der Orchester-Musiker an thematischer Arbeit entsteht, ist so witzig, wie fantastisch gearbeitet. Wie ein Spuk bricht das alles ab. Typisch für diesen Stil also die vom Film her kommende Schnitt-Technik. Das Klavier beginnt zu präludieren als ob eine Haydn-Sonate begönne, intoniert einen Walzer und die Tuba versucht dazu ein humpelnd-ulkiges Solo. Die Saxophone spinnen zarte Fäden, Musik so schön, als ob Brechts Räuber Macheath zu seiner Polly sagte: "lch liebe Dich." Dann flirrendes, zartes Klavierspiel. Aber das ist nicht Cecil Taylor, der da Pate stand, sondern eher schon Debussy oder Ravel. Dann Schnitt, Marsch-Zitat und Schluss.

Ähnlich virtuos gemacht ist auch "Evidence". Man hört nahezu karge, aber zart ausgespielte Linien von Steve Lacy und sehr präzise, sehr selbständige Schlagzeuglinien von Paul Lovens. Die übrigen Jazz-Solisten aber lassen punktuelle Gegenfelder entstehen, die allmählich durch groteske Klangverzerrungen dynamisiert werden.

Zehn Jahre nach "Globe Unity" hat der ehemalige Kompositionsschüler Bernd Alois Zimmermanns - Zimmermann ist einer der überzeugendsten Vertreter der avancierten Collage-Technik - haben die Musiker um Schlippenbach den Jazz nicht nur kommunikativer und geschmeidiger gemacht, in dem sie ihn mit traditionsreichen Charakteren anreicherten. Die Musiker, die Instrumentalisten befinden sich nun auch auf einem staunenswert hohen musikalisch-instrumental-technischem Niveau, das allen Anforderungen moderner Jazz-lmprovisation gewachsen ist. Die Freiheit, die die Jazzmusiker sich einst, in den Sechzigern nahmen, um das Subkutane, das Unterschwellige in Emanzipationsschüben herausschreien zu können, diese Freiheits- und Eroberungszüge haben auch das musikalische Material differenziert und verfügbarer gemacht. Das Resultat ist eine neue Flexibilität der Jazzsprache in den Siebzigern.

"Pearls", die bisher letzte Platte, die "Globe Unity" aus Anlass seines zehnjährigen Bestehens in Baden-Baden einspielte, zeigt das Orchester in seiner ganzen, heute möglichen stilistischen Breite. Und zu diesem Ausdrucksraum gehört der Blick zurück zu Thelonious Sphere Monk, dem Bebop-Pianisten ebenso, wie die freien, streunenden Abenteuer scheinbarer Ungebundenheit. Alexander von Schlippenbach aber, der Pianist, er vergnügt sich an Anton von Weberns spinnenbeiniger Klaviergestik ebenso, wie an den Klangvorhängen Debussys oder den überschäumenden, swingenden Brandungen des Klavierstils von Cecil Taylor; an Strawinskys trocken pointierender Walzer-Geste, an Popularmärschen oder Klassiker-Zitaten.

Exkurs über Tradition

Bereits dieser flüchtige Blick auf die Arbeit des "Globe Unity"-Orchester in den letzten zehn Jahren macht deutlicht welchen Traditionen die europäischen Jazzmusiker verpflichtet sind. Es sind die der klassischen und neuen Musik, der europäischen und amerikanischen Popularmusik, der Volksmusik und selbstverständlich auch der historisch gewachsenen Stile des Jazz. Für den europäischen Musiker gibt es nicht nur einen Mutterboden, mag er nun Blues, Ragtime, New Orleans heißen. Er ist keiner Jazztradition verpflichtet, weil es in Europa in der Tat keine gibt. Wir haben keine big names, von den wir lernen konnten, unmittelbar, Abend für Abend im Dancing, im Club um die Ecke Und diese Traditionslosigkeit ist andererseits auch die Chance des europäischen Jazz, die er nun zum ersten mal in seiner Geschichte nutzte, um seine Eigenständigkeit zu erobern.

Kein Zweifel, der amerikanische Jazz, die amerikanische Jazz-Historie ist ein unermesslich reicher, kaum auslotbarer Besitz. Der neue amerikanische Jazz aber, der mit ähnlicher Entschiedenheit wie der europäische Traditionsfäden abbrach, der modern wurde, ist nunmehr auf eine durchaus vergleichbare Weise gefährdet und traditionalos wie der Free Jazz Europas. Alles hängt nun von den Musikern selbst ab, von ihrem feeling, von ihren Adaptionsfähigkeiten und nicht zuletzt von der Aufgeschlossenheit des Jazzpublikums, das die Musiker akzeptiert. Denn Jazz ist ganz unmittelbar, schon während seines Entstehungsprozesses darauf angewiesen gehört, geliebt, gelebt zu werden. Darin unterscheidet er sich ganz wesentlich von avancierter komponierter Musik. Free Jazz der Siebzigerjahre, das sind also two streams, ein amerikanischer und ein europäischer. Beide stehen in permanenter Konkurrenz zu einander, beide müssen ihre schöpferischen Möglichkeiten offen austragen. Von Dominanzen zu reden oder gar, wie es immer wieder geschieht, von der Überlegenheit des amerikanischen Free Jazz, dafür gibt es bisher keinerlei Beweise. Eher schon Dokumente für Arroganz und Vorurteil unter Jazzmusikern.

Gerüchte über einen Teutonen: P. B.

So schreibt Joachim E. Berendt in seinem neuesten Jazzbuch über Peter Brötzmann folgendes:

"Ausländische Beobachter haben gelegentlich gewisse ,berserkerhafte' Züge deutscher Jazzmusik als typisch ,teutonisch' bezeichnet. Zum Beispiel tat das dies die maßgebende englische Musikzeitschrift ,Melody Maker', in Bezug auf die Improvisationen des deutschen Saxophonisten Peter Brötzmann, dessen musikalischer Kahlschlag viele Zuhörer erschreckt hat. ,Es ist eine Musik, die dich buchstäblich mit Hass auflädt', sagte damals der Gittarist Attila Zoller über Brötzmann, ,Ich kann's nicht hören, ich möchte alles anstecken oder kurz und klein schlagen, wenn ich eine Weile Brötzmann gehört habe.' Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass Brötzmann, obwohl in unserem Lande hochgeschätzt, im Ausland trotz verschiedener Festival- und Konzertauftritte vergleichsweise weniger Aufmerksamkeit gefunden hat."

Peter Brötzmann

Orgiastische Verausgabung bis zur physischen Erschöpfung, die Radikalisierung des jazztypischen "dirty playing`' zu einer permanenten Folge von Geräuschbändern, das perfekte Gegenbild des gepflegten Belcanto-Saxophon-Spiels à la Paul Desmond war mit einem Mal da, ein Mann aus Wuppertal, der im Trio oder Oktett spielte. Die ersten Zeugnisse dieses Bruitisten des Saxophons sind erfreulicherweise erhalten: "The Peter Brötzmann Trio" (FMP 0080) und "Machine Gun" (FMP 0090), eine Musik, die jeden, nicht nur feinsinnige Jazz-Gitarristen, aufstören musste, wollte. Um diese Zeit - Lila Eule, Bremen 1968 - arbeitete Brötzmann schon mit Han Bennink zusammen, dem Schlagzeuger und mit Fred Van Hove, der lange Jahre als Pianist zur Trio Besetzung gehörte. Und wenn man versucht das Charakteristische dieser Musiker zu fassen, dann stößt man immer wieder auf zwei wesentliche Konstanten: explosive Formulierungskraft von staunenswertem Prägegrad und ganz und gar ungewöhnliche Reaktionsfähigkeit im Zusammenspiel. Und im Klartext heißt das: Da sind drei Musiker, die über ein ungewöhnliches musikalisch-emotionales Potential verfügen und sie sind intelligent und reaktionsfähig genug, um es zu nutzen. Was damals bereits vorstellbar war, hat sich dann auch in der Tat erfüllt. Diese drei - insbesondere Brötzmann und Bennink - haben Jazzgeschichte gemacht. Ohne diese schöpferischen, permanent regenerationsfähigen Musiker, wäre der europäische Free Jazz nicht auf dem Niveau denkbar, das er heute hält.

Im August 1970 nimmt das Trio "Balls" (FMP 0020) auf, eine Platte, die bereits erstaunlich viele kammermusikalische Partien enthält.

"Filet Americain"

Besonders auffällig in "Filet Americain", einem Jazzprozess von acht Minuten und zwanzig Sekunden. Hört man sich in die Musik ein, dann treten vier Strukturen deutlicher hervor. Das Stück beginnt mit einer Gruppe schneller Figurationen des Saxophons, des Klaviers, mit permanenten Dreinschlagen des Schlagzeugs, setzt also voll ein, dynamisch ungemein angespannt und Brötzmann steigert die Spannung durch jene Saxophonfäden, die er allmählich höher und höher drückt, bis sie, extrem "dirty" gespielt, nur noch als hohes Geräusch hörbar und im hohen Register zerfetzt werden, einfach abbrechen.

1' 40" Ein zweiter Formteil beginnt als Duett von Klavier und Schlagzeug.

Räumlich weit greifende, "überschwappende" Klaviergänge in auf und absteigenden Bewegungszügen werden von Bennink emphatisch akzentuiert: metallene, klöppelnde Akzente wechseln mit rollendem Schlagzeugspiel. Schließlich kommt es zu einer Art Kadenz, zu einer flirrenden Bewegung auf einem Ton und Fortissimo-Einsatz des Saxophons, der zum dritten Formteil überleitet.

3'25" Ein neuer Materialbereich wird erschlossen: gestoßene, repetierte Saxophontöne im Mezzoforte. Die Intensität lässt nach, Van Hove produziert im Innern das Flügels zirpenden Klavierklang, der verschwebt, ausschwingend echoende Saxophontöne, eine grummelnde Stimme wird hörbar. Erneutes Ansteigen der Dynamik auf der Basis der Repetitionen, Schreie jetzt, dann Versickern der Erregung, Grummeln, weiche, zarte, ungemein klang betonte Einsätze des Klaviers.

6' 30" Was jetzt folgt hat den Charakter einer Reprise des Beginns. Der stoßende Gestus wird aufgenommen und die Musiker arbeiten sich in jenen orgiastischen Ausdrucksraum hinein, der geradezu zum Markenzeichen der Gruppe wurde. Beteiligt sind Bennink mit seinem ganzen Arsenal klöppelnder, rollender, aufschreiender Gesten, Brötzmann setzt zu einem seiner großen Ausbrüche an und Van Hove schlägt dazu stählerne Klavierakzente.

8' 20" Plötzlicher Abbruch des Fortissimo-Prozesses

Dissoziation des Jazzprozesses

Der Jazz der siebziger Jahre ist nicht einfach mit der Vokabel "zurück zu." beschreibbar. Zwar spielt auch Peter Brötzmann jetzt groß gedachte Jazz-Balladen, seine Linien nutzen nicht nur extreme Register, sein Sound ist nicht nur geräuschnah, sondern verfügt nun auch über die Nuancen des Kantablen und des Zarten. Und Bennink umgibt sich im Verlauf der siebziger Jahre mit einem zunehmend differenzierten, gelegentlich überwältigend vielfältigen Instrumentarium, das längst nicht mehr allein als Schlaginstrumentarium beschreibbar ist. Denn ein kleines UKW-Radio, ein Metronom, ein Gartenschlauch, Klarinette und Alphorn oder Muschel gehören wie selbstverständlich dazu, so selbstverständlich wie große und kleine Trommel, wie Becken und Hi-Hat. Sicher, man hört gelegentlich Stil Anleihen heraus, manches klingt wie Bop oder Cool Jazz, Form-Modelle, solche des Blues, aber auch Märsche, Walzer haben Pate gestanden. Das Entscheidende aber sind nicht solche Stil Adaptionen, sondern ist die grundsätzliche Bereitschaft den einmal gesetzten musikalischen Sinnzusammenhang zu unterbrechen, durch Dissoziation die Zeit gleichsam montierbar zu machen. Der Jazzprozess wird so im Extremfall zu einer Art Partikelkunst, wird zu einer Abfolge von Klebebildern, mit der die Zeitstrecke "bepflastert" wird. Man könnte von Collage sprechen, vom Überkleben bestimmter musiksprachlicher Prozesse durch fremde Elemente, durch Zitate aus der Jazz-Tradition etwa. Aber dieser Fall ist seltener zu beobachten. Meist zeichnen sich die Jazzprozesse nun durch permanente, höchst lustvolle und oft sehr pointenreiche und witzige Umstrukturierung aus. Zeit wird dissoziiert, Bewusstseinszusammenhänge, Vorstellungsverbindungen werden sprunghaft gelöst.

Kammermusik

So entsteht unter der Hand Jazz-Kammermusik. Darauf deutet auch ein Indiz, das allen Einspielungen der siebziger Jahre mehr oder weniger gemeinsam ist. Die Stücke werden kürzer, manche sogar extrem kurz, sie schrumpfen zu Miniaturen. 1973 entsteht die Trio-Aufnahme FMP 0130 und das längste Stück dauert 5' 56". Nr. 9 aber ist 1' 35" lang. Und die Charaktere? "For Donaueschingen ever",3' 40", jagt wie eine verrückt gewordene Spieluhr durch die Zeit. "Tschüs" (FMP 0230) wird 1975 eingespielt und wieder zeigt sich eine ähnliche Tendenz. Traditionsreiche Charaktere - Petit blues fourré, Van Hove - und Kammermusik - 2 b-Klarinetten, Brötzmann - dominieren im Repertoire und Brötzmann singt sogar einen richtigen Reißer von Walter Kubiczek: Tschüs. Schließlich, um auch noch ein Beispiel aus der jüngsten Gegenwart, von 1977, zu nennen: "Schwarzwaldfahrt" (FMP 0440), ein Open-Air-Festival von Brötzmann/Bennink in enger Zusammenarbeit mit so reizvollen und begabten Musikern wie Bächen, Seen, Vögeln aller möglichen Provenienz ausgestaltet.

Blicke ich durch mein "Fenster aus Jazz", dann sehe ich also Kammerkunst blühen, sehe freundliche Jazzgesichter, weder hassverzerrte, noch wutentbrannte. Hat denn "Bird" je mit Vögeln zusammen musiziert?

Kollegen, die Szene

Dass solche Tendenz des Brötzmann Trios oder Duos keineswegs isoliert zu sehen ist, sondern in der Tat den herrschenden Trend des europäischen Free Jazz bezeichnet, dafür gibt es genug Beweise, wenn man sich unter den Kollegen umschaut. Albert Mangelsdorff, dieser große Musiker und Solist, hat freilich ohnehin ein Leben lang vor allem Kammermusik gemacht. Aber auch seine jüngeren Kollegen, etwa das Duo Christmann-Schönenberg, wie "Remarks" (FMP 0260) ausweist, pflegen eine Kammerkunst, die neben Skurrilität und Witz äußerste stilistische Beweglichkeit und musikalische Solidität für sich hat. Und wer je das Vergnügen hatte die beiden live zu erleben, der wird nicht zuletzt darüber ins Staunen geraten sein, mit wie sparsamen musikalischen Mitteln, mit wenigen Gesten, Strichen gleichsam beide Musiker ihre zum Miniatur-Theater, zur Pantomime neigende Kunst ausüben. Kammermusik ist auch Hans Reichels Kunst. Ob "Gier", "Lurch" oder "Maria Hilf" - siehe "Bonobo", FMP 0280 - stets produziert Reichels Double-Neck-Gitarre präzis ausgehörte quasi barocke Musik, Tokkaten, Präludien oder aber Klangfarbenbänder von faszinierender Farbkraft. Das mag Musik sein, die sich von literarischen Assoziationen abstößt oder von Comic-strip-Visionen. Die Zeiten der eruptiven Gitarren-Aufschreie Reichels aber sind längst dahin. Musiker wie Kowald oder Schoof, wie Irène Schweizer, die englische Gruppe "lskra 1903", der Jazz-Cellist Tristan Honsinger - sie alle haben im Verlauf der siebziger Jahre die Sprache des Free Jazz differenziert und zu einem vielfältig changierenden Ausdrucksmedium entwickelt.

Niemand wird für das Ende dieses Jahrzehnts oder gar für die achtziger Jahre Prognosen über Tendenzen, über kommende Trends wagen wollen. Wenn man Jazz als besonders zeitfühligen Schmelztiegel sieht, der im Augenblick, mit der Unmittelbarkeit von Jazzprozessen auf Gegenwart reagiert, dann werden solche Zukunftsvisionen noch vager sein, als etwa die über komponierte Musik. Es ging in diesen "Materialien zum europäischen Free Jazz" um die Darstellung von Musik, die uns nun schon über ein Jahrzehnt lang betroffen gemacht und fasziniert hat. Die "Materialien" sind aber auch ein Dank an die Musiker, die mir die letzten zehn Jahre auf so interessante Weise verkürzt haben. Und vielleicht sind sie sogar ein nützlicher Hinweis für die "Heiden": wirklich, es gibt ihn, den europäischen Free Jazz.

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