Peter Niklas Wilson (1989)

Medien-Werk und Dokument

ECM und FMP:
Zwei Schallplattenlabels für improvisierte Musik werden 20 Jahre alt

Eine gemeinsame Betrachtung scheint abwegig. Was sollten die beiden gemeinsam haben, außer dass ihre Firmenkürzel aus drei Buchstaben bestehen? Die künstlerischen Philosophien sind offenbar völlig konträr: Hier das international etablierte Label ECM (Edition of Contemporary Music), mal als Inbegriff musikalischen und technischen Niveaus gepriesen, mal als manieriertes Schönklang-Label gescholten; dort der Kleinstbetrieb FMP (Free Music Production), eine stets hart am Rand des ökonomischen Kollaps operierende Initiative, die sich der Dokumentation der kompromisslos frei improvisierten Musik Europas verschrieben hat. Das zwanzigjährige Bestehen beider Unternehmen scheint da eine eher schwache journalistische Klammer zu sein.

Ein Rückblick belehrt einen eines Besseren. Denn ECM und FMP haben gemeinsame Wurzeln. Die kulturelle Aufbruchstimmung der späten sechziger Jahre war es, die beide Firmengründungen inspirierte, die Aufbruchstimmung auch unter europäischen Improvisatoren, die dem ästhetischen Diktat der US-amerikanischen Jazzgiganten Eigenes entgegenstellen wollten. Die etablierten Plattenfirmen verpassten diesen Neubeginn, und so waren es individuelle Initiativen von Branchenneulingen, die sich der Dokumentation und medialen Vermittlung von Europas Jazz annahmen. Beide, ECM und FMP, sind im wesentlichen Ein-Mann-Labels geblieben: Das Programm von ECM ist gleichbedeutend mit den ästhetischen Präferenzen von Manfred Eicher, FMP steht synonym für die dickköpfige Beharrlichkeit des Free-Jazz-Vermittlers Jost Gebers. Wichtiger noch: beide, die Münchener ECM wie die Berliner FMP, sind Musikerlabels, Betriebe, die von Musikern gegründet wurden, um die desolate Marktsituation des neuen Jazz zu verändern. Beide, Manfred Eicher und Jost Gebers, definierten ihre neue Rolle als Produzent durch ihre Erfahrungen als aktive Musiker. Und: ECM wie FMP sind Firmen, die, wiewohl kommeruziell sehr ungleich reüssierend, doch beide Entscheidendes für die (Medien-)Geschichte jener neuen improvisierten Musik geleistet haben, deren Maßstäbe nicht mehr nur europäische Adaptionen amerikanischer Normen sind.(…)

Zwei Labels, zwei Philosophien

Wenn ECM die Ästhetik von Musik als Medien-Werk, der Schallplatte als kalkulierte Inszenierung vertritt, so verfolgt FMP die vom Medium als Dokument: die Schallplatte soll musikalische Prozesse authentisch, unretuschiert abbilden. Improvisation unter den Bedingungen des Studiobetriebs: Damit hatten die Musiker aus dem Umkreis der Berliner Free Music Production zwiespältige Erfahrungen gemacht. Jost Gebers, Mitbegründer und bis heute treibende Kraft dieser wohl langlebigsten und erfolgreichsten Autonomiebewegung frei improvisierender Musiker, erläutert, welche Konsequenzen sich daraus ergaben:

„Es hat sich dann eine andere Denkweise eingespielt: Dass man versucht hat, viel mehr zu berücksichtigen, wie so ein Konzert tatsächlich abläuft und das einigermaßen realistisch einzufangen – mit den Schwächen, die natürlich dazugehören. Das heißt, also nicht diese gecleanten Studiobänder herzustellen, sondern das durchaus so rau zu lassen, wie es sich abgespielt hat.“

Was sich da „abspielte“, waren die freien Improvisationen der ersten deutschen Free-Jazz-Generation, von Musikern wie dem Saxophonisten Peter Brötzmann, dem Trompeter Manfred Schoof, dem Pianisten Alexander von Schlippenbach, dem Bassisten Peter Kowald: Musik, deren Gestus des Aufschreis vor zwanzig Jahren nicht nur das Publikum überforderte, sondern auch diejenigen, die sich beruflich mit der Vermittlung von Musik befassten. Jost Gebers erinnert sich an die Umstände, unter denen die zweite FMP-LP (FMP 0020, Balls), eine Produktion des Peter Brötzmann Trios, entstand:

„Wir sind in den Sender Freies Berlin gegangen, um da illegal eine Platte zu machen. Ein SFB-Mitarbeiter hatte sich dafür eingesetzt und wollte das drehen. Wir hatten vor, eine richtige Studio-Platte zu machen, aber zum Schluss war es dann so, dass der SFB-Mitarbeiter, der immer Angst haben musste, dass irgendein Vorgesetzter das mitkriegen könnte, dann doch überall im Haus umherlief und umhertelefonierte: „Im Studio X sind ein paar völlig Verrückte. Das müsst ihr euch anhören.“ So stellte sich das Ganze schließlich als Konzert dar, weil kopfschüttelnd Mengen von SFB-Mitarbeiter im Studio herumstanden und sich fragten: was machen die denn da für einen Blödsinn?“

Solche und ähnliche Erlebnisse führten dazu, dass sich die FMP im Laufe der Jahre ein eigenes mobiles Instrumentarium zur Aufzeichnung von Konzerten und endlich 1986 ein fest installiertes Studio im Berliner Stadtteil Wedding zulegte. Doch auch wenn die Verfügung über die eigene Technik nun ein selbstbestimmtes Arbeiten sicherstellte, so blieb doch ein grundlegendes Problem, das nicht zuletzt dafür verantwortlich sein dürfte, dass die engagierte und kompetente Arbeit der FMP auf dem Medienmarkt kaum ein Echo fand: das Missverhältnis von Musik und Medium. Die Musik der FMP-Künstler ist eine spontane, eine Musik des Hier und Jetzt, Musik ohne Notentext, ohne explizite Regulative. Und der Momentcharakter dieser Klangkunst widerstrebt der Permanenz der Schallplatte. Das Augenblickliche, Zeit- und Situationsbezogene wird abrufbar und hebt sich dadurch selbst auf. Das ist ohne Zweifel eine Crux jeder medial konservierten Improvisationsmusik, doch nirgendwo so problematisch wie bei einer, die wie die der FMP-Improvisatoren das Einmalige, Unwiederholbare, nicht Kodifizierte in den Mittelpunkt stellt. Die FMP-Schallplatte ist da sozusagen das institutionalisierte Paradox, ein Dokument, das das Live-Ereignis nicht ersetzen kann und will. Der „unnatürliche“, bewusst von der Konzertsituation wegführende Ansatz der ECM-Produktphilosophie ist ganz offensichtlich der erfolgreichere Weg der Improvisation im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit.

Die Bedeutung der FMP als wichtige Instanz der freien Musik Europas können indes solche medientheoretischen Bedenken nicht schmälern. Da sich die FMP – wie übrigens auch ECM – bemüht, den gesamten Katalog der Aufnahmen aus zwei Jahrzehnten ständig verfügbar zu halten, ermöglichen die (vielfach live mitgeschnittenen) 180 Plattenveröffentlichungen der FMP bzw. des Zwillingslabels SAJ, den zwanzigjährigen Prozess der Entwicklung, Differenzierung, Erweiterung der persönlichen musikalischen Grammatiken der bedeutenden europäischen Improvisatoren von den Anfängen an en detail zu verfolgen – und, dies besonders spannend, die Begegnungen improvisierender Musiker verschiedener Länder, verschiedener „Improvisationskulturen“. Besonders verdienstvoll ist dabei der Einsatz der FMP für die Free-Jazz-Szene der DDR. Musiker wie der Saxophonist Ernst-Ludwig Petrowsky, der Posaunist Conny Bauer, der Pianist Ulrich Gumpert, der Bassist Klaus Koch, der Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer wären heute wohl kaum ständige Gäste auf westlichen Bühnen, regelmäßige Partner westlicher Musiker, hätte Jost Gebers nicht seit 1973 ihre Aufnahmen auf den westlichen Markt und die Musiker selbst seit 1979 auf hiesige Konzertpodien gebracht. Damit ist gleich ein weiterer Punkt der FMP-Aktivitäten angesprochen: Mit dem seit zwanzig Jahren jährlich ausgerichteten Workshop Freie Musik (im Frühjahr) und dem Total Music Meeting (im Herbst) hat die FMP zwei der wichtigsten Foren für Begegnungen europäischer (und amerikanischer) Improvisatoren geschaffen – und in den letzten Jahren zunehmend auch für Begegnungen von Improvisation und Komposition.

Fossil Free Jazz?

In einer Zeit, wo es zum guten Ton gehört, mit postmodernem Zynismus die “Überwindung“ der Moderne zu verkünden, wird gerne auch der Free Jazz zum Fossil erklärt, und damit auch die FMP als eine seiner Bastionen.

„Ich kenne das alles natürlich zur Genüge. Erstens: Es ist ein ganz kleiner Kreis von Leuten, die das immer wieder verbreiten. Zweitens: Wenn immer das angesprochen wird und man dann ein bisschen nachhakt, muss man feststellen, dass sich diejenigen die Musik überhaupt nicht angehört haben. Ein wesentlicher Impetus für die Arbeit der FMP war ja auch, bestimmte Entwicklungen nachvollziehbar zu halten. Das heißt: Natürlich ist es so, dass in unserem Programm Peter Brötzmann oder Alexander von Schlippenbach oder Peter Kowald oder Hans Reichel in einer bestimmten Weise vertreten sind. Das sind eben die Leute, um die es in improvisierter Musik geht. Bei jedem Label wird man zentrale Figuren finden, die prägend sind für eine bestimmte Veröffentlichungspolitik. Bei ECM ist es Keith Jarrett, bei CBS war es Miles Davis, und das finde ich auch gut so. Und gerade am Beispiel Brötzmann lässt sich zeigen, wie der Mann sich über zwanzig Jahre verändert hat. Und wenn dann jemand sagt: „Immer Brötzmann – den kenn ich schon“, dann zeigt das nur, dass derjenige offenbar zwanzig Jahre Peter Brötzmann nicht mehr gehört hat.“

Auch neue Aspekte im Repertoire der FMP-Produktionen sprechen gegen den Vorwurf musikalischer Versteinerung. So spiegeln die Zwei Quintette (FMP 1210/20) des Saxophonisten Rüdiger Carl das neuerwachte Interesse von Improvisatoren an strikten Strukturen wider, so stellt die LP Off the Wall (SAJ-49) Konzeptimprovisationen des japanischen Instrumentenerfinders, Dudelsackspielers und Performers Yoshi Wada vor, so gibt der Leipziger Oboenvirtuose Burkhard Glaetzner auf einer FMP-LP (FMP 1130) einen Überblick über neue Bläserkompositionen aus der DDR. Einen elementaren Schwachpunkt – an dem auch das Programm des großen Bruders ECM krankt – können solche innovativen Akzente allerdings nicht kaschieren: das Defizit an Produktionen mit deutschen Nachwuchsmusikern. Und während Manfred Eicher konzediert, im Zuge seiner internationalen Aktivitäten womöglich interessante lokale Entwicklungen zu überhören, fällt Jost Gebers Diagnose recht schroff aus:

„Ganz schlicht und einfach: Es gibt keinen Nachwuchs. Es ist eine richtig traurige Szenerie. Schon bei einem unserer Treffen vor fünfzehn Jahren habe ich gesagt, man müsste sich einmal über Nachwuchs Gedanken machen und etwas unternehmen. Nun sind die FMP-Musiker nicht unbedingt die besten Lehrer, und alle hatten einen ziemlichen Horror davor, Workshops oder ähnliches anzubieten. Ich habe damals prognostiziert, dass, wenn wir uns da ganz raushielten, eine Situation eintreten würde, wo Jazz im Grunde nicht mehr Musik aus zweiter Hand ist, sondern Musik aus vierter Hand – weil die Secondhand-Musiker die einzigen Lehrer sind. Und genau das ist heute eingetreten. Wenn man in Clubs geht und hört, was da gespielt wird, dann fallen einem wirklich die Haare aus, weil das mit Jazz überhaupt nichts mehr zu tun hat. Das hat nur mit instrumentalen Fähigkeiten zu tun, die teilweise enorm sind; aber das, was notwendig ist, um daraus Musik zu machen, fehlt völlig. Und das ist bestimmt ein Versäumnis der ersten Generation der Leute, die in Europa Jazz gemacht haben.“

Kein Nachwuchs in Sicht, düstere finanzielle Perspektiven für die Fortführung des Total Music Meeting und des Workshop Freie Musik, Probleme mit dem Vertrieb der kleinen LP-Auflagen (die die FMP seit einiger Zeit wieder selbst unter die Leute bringen muss): manchmal fragt man sich, wie Jost Gebers die Energie aufbringt, um neben einem regulären Vierzig-Stunden-Job (!) die administrative, organisatorische und tontechnische Arbeit für das Projekt FMP zu leisten.

„Ich finde das einfach wichtig. Mehr kann ich dazu nicht sagen – irgendeiner muss das eben machen.“

aus: Neue Zeitschrift für Musik # 5, September/Oktober 1989

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