Musik von Persönlichkeiten, die etwas zu erzählen haben:
Übereinstimmung von Lebensprozess und musikalischer Expressivität.
Als Plattenfirma, Produktionsstätte und Veranstalterin
hat die Berliner Free Music Production (FMP) neue Wege gesucht.
Ihre Festivals und Konzertreihen bieten kein „karavanenartige Herdenauftritte von hochkarätigen
Musikern“, sondern es geht um die Nähe von MusikerInnen und Publikum,
selbstgewählte Spielkonstellationen, ein Klima der Kreativität.
Das zwanzigjährige Jubiläum dieser „Living Music“ ist uns Anlass, die wichtigste Institution
europäischer Improvisationsmusik vorzustellen und zu würdigen.

 

Patrik Landolt (1989)

Von Irène Schweizer zum Blauen Hirsch
Zum Einfluss der FMP auf die Schweizer Jazz-Szene

Eine vergleichbare Institution wie die Free Music Production (FMP) gibt es weder in den USA noch in Japan oder der Schweiz. Die Hartnäckigkeit, mit der die neue Improvisationsmusik während zwanzig Jahren live präsentiert, wie sie initiiert und dokumentiert wurde, ist einmalig. Die Workshops Freie Musik waren mir oft eine Reise nach Berlin wert, ich schätze es, eine klug ausgewählte Schar von MusikerInnen während mehrerer Tage ohne den üblichen Festivalstress zu hören und die musikalischen Entstehungsprozesse mitverfolgen zu können. Wahrscheinlich habe ich nirgends so viel über diese Musik und von dieser Musik gelernt wie an den Anlässen der FMP.

Was mich am meisten beeindruckte: Der FMP gelang es immer wieder, MusikerInnen ungeschminkt, ohne Starallüren, fern aller Simulation, Lüge und einfältiger Show - wie sonst im Musikbusiness üblich - zu präsentieren. Ich erinnere mich an einen mehrtägigen Workshop 1983, wo die kalifornische Sängerin Diamanda Galas ohne ihre üblichen Soundeffekte und Lichtshows eine kommunikative Kreativität und improvisatorische Gewandtheit zeigte, wie ich es bei der Sängerin noch nie erlebt hatte. Die Plattenproduktionen der FMP belegen, wie die FMP einen eigenen musikalischen Realismus entwickelte, quasi eine Schwarz-Weiß-Abbildung, wo die Authentizität des musikalischen Ausdrucks gesichert ist und nicht - wie bei vielen anderen Plattenlabels - im firmeneigenen Sounddesign verwischt wird.

Auf die Schweizer Musikszene übten die Aktivitäten der FMP einen bedeutenden Einfluss aus, nicht zuletzt wegen der Persönlichkeit von Irène Schweizer, die von Anfang an bei der FMP mitwirkte. Ohne ihr musikalisches Betätigungsfeld in Berlin wäre die Entwicklung von Irène Schweizer kaum vorstellbar. Sie erhielt ihre musikalischen Anstöße und Bestätigungen nicht in der Schweiz, sondern von ihren KollegInnen aus den Reihen der FMP. Auf der anderen Seite trug Irène Schweizer wesentliche Impulse in die FMP, etwa indem sie 1979 die Männer-Szene mit dem Auftritt der Feminist Improvising Group provozierte. Irène Schweizers Werdegang bis Ende der siebziger Jahre ist auf den Platten der FMP ausführlich dokumentiert.

Neben Irène Schweizer spielten in den siebziger Jahren zahlreiche Improvisatoren aus der Schweiz an den Anlässen der FMP. Im Plattenkatalog der Kooperative sind folgende Schweizer Musiker zu finden: die beiden Schlagzeuger Pierre Favre und Mani Neumeier, der Bassist Peter K. Frey, der Gitarrist Stephan Wittwer, der Pianist Urs Voerkel, die beiden St. Galler Musiker Norbert Möslang und Andi Guhl. Auch VeranstalterInnen ließen sich von den Aktivitäten der FMP inspirieren. Die Zürcher Werkstatt für Improvisierte Musik (WIM), Kollektive wie Jazz Now Bern (heute Impro Bern) oder Fabrikjazz Zürich und das Taktlos-Festival arbeiten im Geiste der FMP, wenn auch das musikalische Spektrum sich erweitert hat und andere musikalische Einflüsse - beim Taktlos etwa aus dem Bereich des experimentellen Rock - dazukamen.

Vermehrt waren in den letzten Jahren wieder Schweizer MusikerInnen an den Anlässen der FMP vertreten. Der Bieler Saxofonist Hans Koch spielte in der legendären European Bigband von Cecil Taylor und war in diesem Sommer zum Saxofon-Meeting geladen. Stephan Wittwer und Wädi Gysi waren am Gitarren-Festival der FMP zu hören, und Werner Lüdi formierte ein Saxofon-Duo zusammen mit Peter Brötzmann.

Leider sind die Platten der FMP in der Schweiz in vielen Plattenläden nicht erhältlich und werden von der Presse nur ausnahmsweise wahrgenommen und kaum rezensiert. Das Quartett Blauer Hirsch mit Wädi Gysi (Gitarre), Werner Lüdi (Saxofon), Mich Gerber (Trompete) und Mani Neumeier (Schlagzeug) brachte diesen Sommer seine erste Platte auf FMP heraus: eine aufregende, aktuelle Mischung von freier Musik und Rock (FMP1240). Von Irène Schweizer liegt eine kürzlich eingespielte Duo-Platte mit der Bassistin Joëlle Léandre vor (FMP 1160), Stephan Wittwer und Irène Schweizer sind auf dem Doppelalbum der Gruppe COWWS zusammen mit Rüdiger Carl, Phil Wachsmann und Jay Oliver ebenfalls auf FMP zu hören (FMP 1210/20).

aus: WOZ, Die Wochenzeitung (Schweiz) # 42, 20. Oktober 1989

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