Jürgen Engelhardt (1980)

Kein Grund, in Pension zu gehen

Ein aktueller Querschnitt durch das FMP-Angebot

„…netto gesagt, schlage ich vor, dass wir im Altenheim
für ehemalige avantgardistische Organisationen
einander zurzeit nur alte Platten vorspielen
aus der Blütezeit der 70er Jahre“.
Misha Mengelberg

Ironie ist Selbsterhaltungstrieb, ist für im doppelten Sinne freie Musiker (frei von materiellen Pfründen und frei für musikalische Wahrheit) lebensnotwendig. Bei manchem Musiker ist sie bis zur Bitterkeit oder selbstverleugnendem Zynismus vorangetrieben. Denn die freie, improvisierte Musik, die zwischen ernsthafter Anstrengung und Ironie zu schwanken pflegt, ist immer auch ein Stück gelebter Kritik und utopischer Entwurf zugleich. Sie kann den philosophisch blinden Alltag nur erreichen, wenn seine Gleichgültigkeit aufplatzt und Musik als ästhetische Form von Selbstbestimmung sich einnistet. Veränderte kulturpolitische Konstellationen deuten auf Verengung, auf kältere Reaktionen, Jazz könnte ‚Schattengewächs’ werden (die immer „vorsichtiger“ werdende, Position auf Position zurücknehmende Musikpädagogik ist da übrigens Seismograph wie die Stahlindustrie für die wirtschaftliche Entwicklung).

Es mag also kein Zufall sein, dass die Free Music Production gerade Ende der 60er Jahre ihre Arbeit aufnahm und nun, nach zehn Jahren, vermehrt daran geht, möglichst alle Dokumente dieses Weges, der „Blütezeit“, noch rechtzeitig zu konservieren. Denn gerade die Freie Musik ist, wie keine sonst, impulsive Widerspiegelung und reaktive Erkenntnis, ist in der improvisierten Spielaktion zugleich auch gesellschaftliche ‚Interaktion’.

Damals, 1968, ging der Jazz parallele Wege mit der Neuen Musik, radikalisierte deren ästhetische Prinzipien. Beispiel: das Pierre Favre Trio.

FMP 0630 Santana

Man lese den (hier ins Deutsche übersetzten) programmatischen Cover-Text in seiner stichwortartigen Prägnanz zweimal: unter musikalischem Aspekt und wie Lebensalltag abläuft: „Kontinuität / Fortwährender Wechsel von kleinsten Partikeln; Bewegung, die weder beginnt noch endet / Unwillkürliche Bestimmung des Wechsels; die Existenz all dieser Dinge in sich selbst, in unbewusster Beziehung zu anderen Dingen…Nicht-Existenz von Zeit / Santana“.

Traditionelle Jazzmusik (auch weite Bereiche des Modern Jazz) und Alltag haben gemeinsam, dass sie, wenn auch gegliedert, unbewusst von Zeit durchflossen werden. Die Zeit heißt da einmal Swing und das andere Mal Gewohnheit. Zeit zu gestalten hieß also damals für den Free Jazz, sie zu negieren, sie aufzuheben, zu dialektisieren. Die Frage, ob Jazz ohne fixiertes Metrum und vorgegebenen Rhythmus noch Jazz sei, ist müßig, wenn der ästhetisch aufklärerische Spiegel ihm vorgehalten wird, wenn seine entscheidende Grundlage, die Improvisation, wieder zu ihrer ureigensten Funktion zurückgeführt und dabei ihre historische Verengung auf “Swing“ außer Kraft gesetzt wird.

Rhythmus und Metrum, die harmonisch darauf bauende traditionelle Chorus-Form überhaupt zu suspendieren, führt diese Platte ohne Anstrengung, in blendender Disposition der Akteure, geradezu klassisch, vor: Passagen großer Informationsdichte, die swinggewohnten Ohren „chaotisch“ vorkamen (und vorkommen), dennoch aus kleinsten, Bedeutung tragenden Klangpartikeln bestehen, wechseln mit Abschnitten von großer Zerrissenheit, wo die Zeit krepiert – in großen Intervall-Distanzen, in der Vereinzelung des Tonereignisses. Metrum und Rhythmus sind „nach innen“ gezogen, erzeugen nicht mehr Erlebnishaftigkeit, sondern sind deren Resultat. Aufbau und Destruktion hintertreiben Zeitgewohnheiten, die „natürlich“ schienen, hier muss der Hörer seine Emotion zur Verfügung stellen, bereit sein, sie auf die neuen, verschobenen und verkruxelten Akzentenergien zu verteilen: Ballende Zusammenziehung und überdehnte Ausweitung, sei es zwischen den Instrumenten oder im Solo, ergaben – damals – neuartige Temposchichtungen, vieldimensionale Moments Musicaux.

Und dass die technisch-musikalische Seite ein nicht unwichtiger Aspekt neuer ästhetischer Prinzipien ist, hat die Free Music Production während der 70er Jahre auch nie aus dem Auge verloren – im Gegenteil, mit thematisch auf bestimmte Instrumente und ihre klanglich-technische Eigenarten abgestellten Workshops (alljährlich zur Osterzeit in der Westberliner Akademie der Künste) unterstützte sie auch äußerlich und organisatorisch die sich abzeichnenden freieren Entwicklungen in der Handhabung der Instrumente. So war beispielsweise der Workshop 1978 den „Horns“, den Blasinstrumenten, gewidmet.

FMP 0660 Horns

Einige der wichtigsten europäischen Free-Jazz-Bläser waren hier versammelt. Manfred Schoof machte den Auftakt in einer Art Bläserparade aneinandergereihter Soli: In balladesker Expressivität bläst er seine Linie, mit scharfen Akzenten dramatisch zuweilen aufladend, Atem- und Blasgeräusche mittransportierend. Dagegen Günter Christmann: sein Posaunenspiel leuchtet so virtuos und kammermusikalisch feinsinnig zugleich die Grenze zwischen Klang und Geräusch aus – ohne Frage wird er in späteren Rückbetrachtungen der 70er Jahre einmal zu den wichtigsten Instrumental-Erneuerern zählen. Nur das Schlagwort, die feuilletonistische Plakette fehlt noch.

Fast programmatisch dagegengesetzt Albert Mangelsdorff, der Altmeister, der die Jazztugenden im modernen, avancierten Klanggewand bewahrt hat, nicht ’swing’ aufgibt und nicht die rotierende Spannung zwischen Rhythmus und Metrum. Und wie ein Glanzpunkt schließt (abgesehen von Paul Rutherfords eher experimentaler Euphonium-Coda) das Gentleman-Spiel des Trompeters Kenny Wheeler die Parade ab: Im fast barocken Ideal des schlanken, glänzenden Tones bedient er sich der freien Spieltechniken auf übersichtliche, intellektuelle Weise.

Unter diesem instrumentalen Aspekt ist auch zu sehen:

FMP 0680 Die Jungen: Random Generators

Und mancher mag es als bloße Kuriosität empfinden, wenn zwei Kontrabassisten zusammen einen Auftritt bestreiten, aber es ist dennoch nur (oder gerade) Freie Musik im besten Sinne, befreit von Konvention und frei für die eigene, individuelle Phantasie und Kreativität. Tatsächlich wird der Bass hier endgültig zu ästhetischem Eigenleben gebracht, die technischen Schwierigkeiten des Instruments scheinen keine mehr zu sein: Die Bassisten imitieren, antworten, geben vor, korrespondieren über ungeahnt differenzierte und stilistisch breite Materialfelder. Da ist die sperrige, dunkle berstende Kantilene, der Bereich schnell staccatierender Ostinato-Figuren, der virtuose Strich schief und quer, quietschend und singend mit Energie geladen. Die Register und Artikulationen, Flageolett und Holzklopfen werden in kammermusikalischer Feinheit genutzt, die natürliche Trägheit des Instruments scheint aufgehoben, der Kontakt zwischen den beiden, Kowald und Phillips, ist gänzlich auf Aktion und Reaktion als Gesprächsmodell abgestellt.

Das die mehr technisch-ästhetisch orientierte Seite des europäischen Free Jazz und der Freien Musik, die aus der Zuwendung zur avantgardistischen Kunstmusik ihre Neuheit gestalteten, deren Prinzipien erst recht eigentlich zum Leben erweckten und einen Grad von Differenziertheit, Kommunikation und klanglicher Gestaltungsqualität erreichten, von der die komponierenden Avantgardisten nur träumen können.

Die andere Seite war der kritische, der politische Anspruch. Denn natürlich war der Free Jazz auch ideologisch gewendeter, ästhetischer Vatermord: Der Begriff „Kaputtspielphase“ ist da ein Missverständnis, soweit er nur chaotische Beliebigkeit konstatiert. Das machte Alexander von Schlippenbach, der am meisten Angegriffene, mit seinem „Hamburg 1974“ deutlich. Denn Kaputtspielen hieß und heißt nicht nur, musikgrammatische Regeln zu missachten, sondern die Sprache der falschen Gefühle, der unkritisch transportierten Emotionen als Ballast zu demontieren:

FMP 0650 Hamburg ’74

Eine Auftragskomposition mit Text-Empfehlung. Verwendet werden sollte der vaterländische Hymnus „Stadt Hamburg in der Elbe Auen“ von Albert Methfessel. Ein äußerlicher Anlass, um die graue Enge, den handelsbürgerlichen Schein von Fanfaren und Huldigungsmusik zu zerblasen. „Heil über Dir“ als mächtig kadenzierende Chorphrase im Stile des Männergesangvereins und der Biedermeier-Oper eröffnet das Stück. Heilheit und Ganzheit, pathetische Idylle sind komponiert, drumherum zwacken Bläser- und Schlagzeugphrasen improvisatorisch an der tonalen Ordnung. Bennink und Christmann halten es nicht mehr aus, „fahren ab“ in faszinierender Weise, Schlippenbach bittet kompositorisch zurück zur geordneten Zerstörung: eine Ouvertüre folgt, atomisiert, extremisiert, verlangsamt, zerquetscht (geeignet für die Geburtstagsfeier von Jazzfans); selbst der eingesetzte Jubelchor schlägt sich (geplant) auf die Seite der Free Jazzer: vieldimensionierte Chorcluster zerreiben den Jubel. Das Lächerliche gerät zur Groteske, die Fusion zwischen NDR-Chor und Globe Unity zur kunstvoll gleißenden Kollision. Und „only one thing left“ am Ende. Free Jazz pur in Klang– und Geräuschcollagen. Die Ästhetisierung der Neukonvention. Aber das wäre zu einfach, dieser Traum, und Schlippenbach rundet eckig mit einer beglückenden Eintracht der „harmonia“ ab, erstmals erscheint der komplette Hymnus und ultralogisch, dass die „Luft“ aus Schlippenbachs Wahlheimatstadt, die „Berliner Luft“ den Abschluss bildet.

Auf der Rückseite ein ernsthafter Versuch Manfred Schoofs, „Kontraste und Synthesen“ zwischen dem Stimmkollektiv des NDR-Chors und den Möglichkeiten des Free Jazz zu schaffen. Fast ein Demonstrationsstück für die ästhetischen Grundlagen des Free Jazz ist dabei herausgekommen. Beobachtbar ist das Spiel mit dem Zeitgefühl, der Wechsel von Pulsation und Zeitordnung. Zusammenziehung und Auffächerung, statistische Strukturen, der gezielte Einsatz von Registerfarben. Eine Demonstration auch, wie sehr Free Jazz im Gegensatz zur Neuen Musik von Artikulation und Agogik, den eher vernachlässigten musikalischen Gestaltungs- Möglichkeiten, lebt, wie sehr sich der instrumentale Ausdruck auch dem der menschlichen Stimme wieder zu nähern versucht.

In diese Phase, besser: zu dieser Kunstseite des Free Jazz überhaupt, wenn auch erst im April 1977 entstanden, gehört der Plattenmitschnitt des Berliner Workshop-Auftritts des ICP-Tentet, des Ensembles der holländischen Musikerkooperative.

SAJ-23 ICP-Tentet in Berlin

Was bei Schlippenbach kompositorische Anstrengung ist, ist bei Mengelberg und Co. scheinbar künstlerische Lebensweise. Sie mimen nicht, sie sind so. Obwohl: der Hang zum Happening, zur Aktionssatire ist zweifellos nicht angeboren. Er ist ästhetische Reaktion und gehört als Verachtung von Autorität zu den vornehmsten der Jazztugenden. Bereits Mengelbergs Ansage ist gleichgültige Verweigerung des Konzertritus. Statt wohlgeordneter Höflichkeit Rotzen, Kotzen, Plotzen. Eine Marschkapelle dann, die gleichsam auf der Stelle tritt und unappetitlich, ölig langsam ausläuft: die klammheimliche Freude am Zackigen ist spürbar, denn Parodien haben es nun einmal an sich, die versteckte Lust am Parodierten mitzuzitieren. Da fehlt im Grunde eine ästhetische Gegeninstanz, die der satirischen Kritik den Maßstab geben würde, quietschende und zitzelnde Streicher sind gegen die vaterländisch massiven Bläser zu wenig. Mengelbergs Kunstglück ist es, dass Tango, Walzer und Swing nun schon mal ihre Geschichte des Parodiert-Seins haben. Da genügen verdünnte Zitate, um Stilformen und Tanzweisen wie marode Kistenbretter auseinanderbrechen zu lassen. Vielleicht aber auch zielt Mengelberg tiefer (ist dabei noch radikaler als Kurt Weill), will mit dem Muff in den Jazzstil-Falten gleichzeitig auch die Amüsierfunktion herausblasen. Mengelberg geht es nicht nur darum, Sinnhaftigkeiten zu leimen, ihm geht es um’s Ganze, selbst die Grundlagen seines eigenen musikalischen Tuns zerspielt er: „I forgot rhythm“, und – abgesehen von der Titel-Parodie – wirken die auseinanderlaufenden Tempi wie ein schlecht gestrickter Pullover mit dem hohen Reiz des Idiotisch-Schlampigen. Und nur zuweilen setzen sich konzentrierte pianistische Befreiungsschläge in die rohe Naivität zwischen die staunenden Kunstaugen gleichsam; Berserker-Cluster auf dem Klavier retten vor dem ästhetischen Ertrinken. Dazwischen in memoriam (jeder Zyniker hat sein kleines Heiligenbildchen) ein Hommage an Johnny Hodges: Ein ernsthafter Versuch, der nicht gelingt. Die Substanz ist zu dünn. Kann der Mengelberg überhaupt Klavier spielen?

Die radikale Verweigerung Sinnhaftes zu spielen, positive künstlerische Leitbilder zu schaffen, ist Deutschen und Holländern seit der Studentenbewegung gleichermaßen eingraviert. Nur – in Holland gab es gleichzeitig Kulturkritik, künstlerische Agitation, der deutsche Protest verlief weitgehend auf’s Politische beschränkt. Der holländisch leichthändigen Satire steht so der deutsche Protest oftmals in Form ästhetischer Kraftakte gegenüber – mit viel mehr Ernst und Anstrengung. Die Ausnahme ist hierbei Peter Brötzmann, deshalb auch als quasi deutsches Urviech beliebter Jazzpartner der Holländer.

FMP 0670 3 Points and a mountain

Hier ist, abseits vom sonstigen Kraftröhren die faszinierende Farbkraft Brötzmannschen Klarinetten- und Saxophonspiels zu erleben, das lustvolle Ausbasteln von Zeit, die Kaskaden von Staccato-Klängen und anderen Artikulationsfeldern. Mengelberg bewegt sich dazu wie ein musikalischer Druckfehlerteufel, er animiert ständig, mit musikgrammatischem Lapsus den künstlerischen Sinn zu stören: Unbedarftheit als ästhetische Stimulans, stockendes, schwerfälliges Klavierspiel, das sich durch makaber banale Kadenzen und Schlüsse schleppt. Da schwenkt Brötzmann dann schließlich ein: monotone Klarinettenfiguren, Geklimper, Pfeifen, Röhren, Quietschen, Stottern, Lamentieren. Wahrscheinlich hat die rohe, abgestoßene Außenseite auch ihr Pendant in einer Innenseite stolzer Empfindungen. Auf jeden Fall entwachsen den Traditionsruinen immer öfter kleine Schönheiten, die uns der Utopie, sei es auch nur millimeterweise, näher rücken lassen.

Ganz nah daran wähnt sich das Duo Heiner Goebbels und Alfred Harth. Sie kehren mit tradierten, freien und Jazzmitteln die individual-psychologische Funktion des Jazzausdrucks um:

SAJ-20 Vom Sprengen des Gartens

Denn war der Jazz in seinen Ursprüngen (und in seinen besten historischen Momenten) musikalischer Ausdruck (schwarzer) individueller Leidenspsyche und so ein Stück resignativer Aufklärung, so ist für Goebbels/Harth die musikalische freie Kunst Mittel der aktiven Ermutigung, die Möglichkeit, den „versengten Rasen“, den „nackten Boden“, das „beerenlose Strauchwerk“ mit Utopie zu „besprengen“. Sie achten sorgfältig darauf, dass aus dem Gießen, dem Sprengen des Gartens kein hemmungsloses Schütten wird. Die ganze Konzeption der Platte ist streng und lustvoll zugleich, wie wir es von Brechtschen Gedichten gewohnt sind. Kein Zufall also das Motto gebende Lied von Eisler / Brecht, das in drei Versionen geboten wird. Goebbels ist dabei weniger auf die Sichtung intellektueller Verfahren bedacht; Kampflied und Ballade werden in ihrer dichten, kompositorischen Hermetik, in die Eisler sie fasste, eher spielerisch und assoziativ aufgeknackt, ihre Sinnlichkeit und Emotionalität ausgekostet, die gerade der Jazz (Eisler benutze ihn nicht nur deformativ) als rhythmisch-formale Spur hineingezeichnet hatte.

Der politisch nüchterne Kern bleibt unbeschädigt, blüht nur auf andere, neue und farbenprächtige, die Klangwelt als politische Welt deutende Weise. Glücklicher Umstand ist auch, und dem Duo gebührt das Verdienst der Entdeckung und ihrer formal ästhetischen Möglichkeiten, dass Eisler eben jene Kirchentonarten rhythmisch und harmonisch funktionalisierte, die auch John Coltrane in den 50er Jahren als für den Jazz neu entdeckte und einbrachte. Und die Lust am Umdeuten, Umspielen und Parodieren, das ungeheure Vergnügen, das der Umgang mit abgesetztem, von seiner Gängigkeit schon ganz abgeschabten „Material“ bereitet, um seinen „Wert“ zu entdecken und politisch verfügbar zu machen, - diese Lust ist das eigentliche Ferment, das Eisler und Jazz, sprich Heiner Goebbels und Alfred Harth produktiv zusammenführte.

Die Methode des „Materialwerts“ hat den Vorteil, ausweitbar zu sein: Aus Bachs Passions-Rezitativen werden so mit Klavier und Saxophon dramatische und explosive Gebilde, wie sie sich nun tatsächlich beim Anhören Bachscher Musik aufstauen und abbilden: Oder auch „Ich grolle nicht“ (Heine/Schumann) als komisches Melodram, das sich von der schlichten Lied-Romanze ins geputschte Sentiment hineinbewegt.

Natürlich hat solch gewagter, herrlich kluger Umgang mit der Tradition, an dem Eisler seine Freude hätte, auch seine Einbrüche, produziert auch Missratenes. Eine Improvisation über „Los Campesinos“ aus dem spanischen Bürgerkrieg darf einfach nicht zum klavieristisch aufgeblasenen Pathetikum degenerieren und nur noch blanken Klangschrott zeigen. Entweder hat das Lied keinen Wert jenseits der nunmehr historischen Tagesaktualität oder aber das Aufbereitungsverfahren des Duos setzt am falschen Punkt an. Das Letztere ist wahrscheinlich, wenn man einmal gehört hat, wie das Berliner Improvisationsquartett aus der DDR mit solch ernsthaftem Material mit Rilke, Brecht und Baudelaire umzugehen versteht: da wäre (ergänzend) noch einiges abzuschauen: Trotz dieser Einschränkungen eine wichtige und gute Platte und ein thematisches Engagement, das verhindern hilft, dass ein Mengelberg oder Brötzmann, eine Schweizer oder ein Mangelsdorff vorzeitig sich und ihre Musik pensionieren müssen.

aus: Neue Zeitschrift für Musik # 4, Juli/August 1980

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