Charles Carsten (1979)

Späte Ehren
Zehn Jahre Free Music Production

Die Free Music Production entstand als notwendige Alternative.
Denn so wie es zuging im Musik-Business, so ging es nicht weiter.
Die deutschen Avantgarde-Musiker wurden von den Krämern,
die mit der Musik schachern, schnöde geschnitten.


Alles fing an 1968, zum ersten von Berliner Musikern organisierten Anti-Festival, eine hitzige Kampfansage an die Berliner Jazztage. Geburtsort war das Undergroundlokal „Quartier von Quasimodo“, ein finsteres Loch an der Kantstraße. So erbost war man in den Sturm- und Drang-Zeiten einer neuen Generation von Musikern auf die gesamt etablierte Szene, dass Jazzkritiker, wie ein handgemaltes Schild am Eingang warnte, den doppelten Eintrittspreis zu zahlen hatten. Der Chronist verschwieg beschämt seine Profession.

Drinnen war der Teufel los. Ohne Ausnahme waren alle Musiker gekommen, die sich der neuen Szene zugehörig fühlten. Internationale Kontakte waren schon weit gediehen - John Stevens und das „Spontaneous Music Ensemble“ waren von England rübergekommen, John McLaughlin, damals noch kein abtrünniger Star, fand sich mit Gunter Hampel ein. Und die Stars des offiziellen Festivals, Sonny Sharrock und Pharaoh Sanders, konnten in den langen Nächten erst hier sich richtig Freispielen.

Dieses erste „Total Music Meeting“ verlief derart hoffnungsvoll, dass man sich entschloss, der Bewegung festere Gleise zu bahnen. Da gab’s natürlich Schwierigkeiten bei der Weichenstellung. Manch einer scherte unbefriedigt wieder aus (wie später Detlef Schönenberg). Erst im Sommer 1969 wurde die Free Music Production endgültig gegründet. Den Kader bildeten Peter Brötzmann und Jost Gebers. „Alle waren sich darüber einig, dass wir keinen Verein, keine juristische Gesellschaft, geschweige denn eine Firma gründen wollten“, erinnert sich Gebers. Im ersten genossenschaftlichen Überschwang hatte man nicht geglaubt, sich mit lästigem Kleinkram juristischer und monetärer Natur ernsthaft auseinandersetzen zu müssen.

Aus einer Verlautbarung der FMP von damals: „Free Music Production ist eine Non-.Profit-Organisation von Musikern, deren Ziel es ist, zeitgenössischen Jazzmusikern und Komponisten von der kommerziellen Musikindustrie unabhängige Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen und durch geeignete Präsentation dem Hörer einen informativen Überblick über die neue Jazzmusik zu ermöglichen.“

Schlagwortartig läst sich sagen, dass die FMP mitten im Kapitalismus mit dessen Mitteln gegen ihn antritt, oder wörtlich: „anspielt“.

Keineswegs also hat sie gesellschaftliche und wirtschaftliche Usancen umgangen, sondern sie für ihre Zwecke nutzbar gemacht. Für Künstler, die sonst, trotz gelegentlich scheinbarer Narrenfreiheit, vom Business gemieden wurden, weil ihnen aber auch nicht ein Quentchen von Verwertbarkeit zu entlocken war. Die zwei bei ECM erschienen Globe-Unity-Platten ändern daran grundsätzlich nichts.

Hinter der FMP steht zweifellos auch ein soziales Programm. Ihre Arbeit ist eine musikalisierte Agitation für ein erträglicheres Zusammenlaben. Die Utopie einer kreativen Sozialisation gewinnt hier durchaus eine praktizierte Wirklichkeit. Die FMP ist eine Kooperative. Eine Kolchose ist sie deswegen nicht. Jeder Musiker behält das ungeteilte Recht an seinem Produkt.

Die Platten werden in der Regel in Startauflagen von 500 Stück gepresst, an Verkaufszahlen der Multis gemessen, recht bescheiden. Während es Gebers vor vier Jahren noch wichtiger fand, „1000 Leute mit neuer Musik bekannt zu machen, als 10000 Leuten alte Platten zu verkaufen“, ist er mittlerweile überzeugt, dass es genau so wichtig ist, auch alte Platten wieder aufzulegen. Die ersten von Brötzmann beispielweise. Weil diese nämlich, unter anderem, eine ästhetische, musikalisierte Chronik abgeben.

Aktuell sind die FMP-Platten in der Tat. Die „Balls“-Platte beispielweise gelangte in nur sechs Wochen nach der Aufnahme in den Versand! So kurzfristig schafft es keine große Firma. Kümmerlich aber blieben die Umsätze so lange, wie der Vertrieb über den Postversand und bei Konzerten erfolgte. Darum wurde vor drei Jahren der Vertrieb teilweise einem größeren Unternehmen (Bellaphon in Frankfurt) angegliedert. Eine schizophrene Wendung? Solange die Prämisse der Produktionsgrundlagen darunter nicht leiden: nein! Bislang hat sich die FMP noch den Gesetzten von Mehrwert und Zuwachs entziehen können.

Ständig steigende Kosten machen auch vor der FMP nicht halt. Bei 500 Exemplaren liegen die Einstandskosten zwischen 3500 und 5000 Mark. Gewinne sind da nicht merklich zu erwarten. Eine gesunde Stückzahl wären 2000. Darunter bleibt es lediglich beim bescheidenen Rücklauf teurer Investitionen.

Während die großen Gesellschaften ohne Erbarmen dem Produktionszwang ausgesetzt sind, Gilt für die FMP: „Eine Platte sollte man nur dann machen, wenn es sich musikalisch „lohnt“ und nicht, wenn es finanziell erforderlich scheint oder gerade ein Studiotermin frei ist.“ Auf den Inhalt der Musik sind die Plattentaschen abgestimmt. Hier wird dem Käufer kein bunter Sand in die Augen gestreut. Die Ausstattung ist einfach bis spartanisch. Beim Brötzmann-Dreifach-Album war’s nur schlichter Postkarton. Unverkennbar vermitteln die Graphiken auch visuell den Moment des Entstehungsprozesses und entsprechen damit dem Charakter der improvisierten Musik. Oft sind sie von den Musikern eigenhändig gestaltet. Im Falle der FMP 0070 waren zwölf Freunde von Peter Kowald beteiligt, wobei jeder ein kleines Quadrat bekritzeln durfte. An der, mit kommerziellen Auswüchsen verglichen, primitiven Illustrierung sollte sich ohne Not auch nichts ändern, weil sie bereits einen Teil des FMP-Images ausmachen. 90 Langspielplatten und sechs Singles zählt inzwischen der FMP-Katalog. Und immer noch macht der Nachwuchs etwa ein Drittel der gesamten Produktion aus. Das ist selbst auferlegte Verpflichtung.

Ein Meilenstein in der Geschichte der improvisierten Musik in Deutschland wurde im vorigen Jahr mit Senats-Hilfe die Dokumentation „For Example“. Mit Textbeiträgen von Musikern, Fans und Kritikern und Fotos mit der typischen FMP-Atmosphäre. Die Musikmitschnitte auf den drei Platten von Soli bis Großorchestern sind nicht wiedergekäut, sondern einzig und allein in dieser Kassette zu haben. Leider sind sie nicht mehr zu haben. Eine Neuauflage ist fraglich. 250 Stück wären möglich. 800 aber wegen der immensen Kosten nötig.

Zunehmend entwickelt die FMP eine funktionable Betriebsamkeit. Ein Büro wurde in der Behaimstraße gemietet, ein Mann angeheuert, der sich sowohl in diesem Gewerbe auskennt wie auch in der spontanen Sphäre dieser Musik beheimatet ist: Dieter Hahne (29) kam aus Villingen im Schwarzwald.

Zum Stolz der FMP gehört auch eine sehr gute und transportable Aufnahme- und Verstärkerapparatur. Die FMP steht also durchaus tatkräftig auf dem Boden der Realität. Und der Verdacht elitärer Feuilletonisten, die FMP könne eine Clique eigensinniger, rechthaberischer Eigenbrötler sein, verpufft. Sie arbeitet auch zusammen mit Musikern, wie Albert Mangelsdorff und Manfred Schoof, die im internationalen Jazzgeschäft etabliert sind, auch natürlich mit anderen Selbstverlagen wie Gunter Hampels. Die Verbindungen gehen bis zu Steve Lacy in Frankreich und John Tchicai in Dänemark. Nur mit der amerikanischen Jazz Composers Guild sind die Gespräche wegen der dort völlig differierenden Situation nicht gediehen.

Aufsehen erregte die FMP auch in breiteren Kreisen mit Produktionen, die eigentlich so nah lagen, aber wiederum so fern. Nämlich mit Jazz aus der DDR. Und nach langen Jahren unermüdlicher Anstrengungen lief ja im August „Jazz aus der DDR“ über das Podium der Akademie der Künste.

Denn die FMP-Musiker lassen es nicht allein bei Platten bewenden, sondern sie realisieren ihre Absichten, der Musik eine angemessene Präsentation zu verschaffen, auch und gerade in Konzerten. So hatte es angefangen. Denn gerade diese Musik (Free Jazz - wenn es denn noch gesagt sein muss) wird erst live so blutvoll erlebt wie gespielt. Auch hier geht die FMP ihre eigenen Wege. Die Musiker müssen so wenige Zwänge wie unvermeidbar eingehen. Ein minuziöser Fahrplan existiert meist nicht, dennoch klappt alles reibungslos. Pannen lassen sich hier und da nicht gänzlich vermeiden, werden aber vom Publikum als selbstverständlich toleriert.

Auch die Konzertbesucher finden Bewegungsfreiheit. Stuhlreihen stören bloß, die Spielfläche wird, wenn vertretbar, zugänglich gehalten. Nie sollten sich Zuhörer gezwungen fühlen, einen Set von Anfang bis Ende durchzustehen. In ausgedehnten Sets ergeben sich naturgemäß Spannungen und Momente der Lücken. Daher sollten die Besucher die Freiheit behalten, sich entsprechend ihrer Konzentrationsfähigkeit zu bewegen.

Einen Einschnitt in die bisherige liberale Praxis verursachte im August die Akademie der Künste im West-Berliner Hansaviertel, indem sie die DDR-Veranstaltung noch so eben passieren ließ, aber das Rauchen strikt verbot. Selbst eingefleischte FMP-Freunde fühlten sich vergnatzt, hielten sich aber an das Tabu, um die Veranstaltung nicht im Gesamten zu gefährden.

Freier wird es wieder im „Quartier Latin“ an der Potsdamer Straße vom 31. Oktober bis 4. November zugehen. Dann nämlich wird das zwölfte Total Music Meeting über die Bühne gehen. Im Dutzend billiger? Verteuert wird jedenfalls nicht - die Tageskarte kostet 8, die Dauerkarte 30 Mark. Solche preiswerten Billets sind nur möglich, weil diesmal von der Festspiele GmbH 40000 Mark Zuschuss kommen. Apropos Geld: Der letzte von der FMP vorgelegte Jahresabschluss weist einen Verlust von nur 4200 Mark aus - Gebers euphorisch: „Hervorragend!“ Im Jahr zuvor betrug der Verlust noch 21000, davor sogar 26000 Mark. Wie das zu machen ist? Gebers zum TIP: „Ich hab’n Job und meine Frau auch.“

Die Opferbereitschaft honorierte der Verband der deutschen Kritiker mit einem Preis in der Sparte Musik - ohne Geld. In der Begründung heißt es: „Jost Gebers ist nicht nur die Organisation und Koordination vielfältiger Aktivitäten zu danken, zu denen auch Einzelauftritte der Musiker gehören. Dass heute von einer Avantgarde-Szene des europäischen Jazz gesprochen werden kann, ist nicht zuletzt das Verdienst dieser Musiker-Kooperative und ihres Leiters Jost Gebers.“ Späte Ehren.

Zufallsergebnisse sind beim Total Music Meeting leicht überprüfbar; weil nämlich die verschiedenen Formationen in abwechselnden Gruppierungen von Abend zu Abend im Programmablauf versetzt werden. So auch diesmal.

Einer der spektakulären Programmpunkte wird die Feminist Improvising Group rund um Irène Schweizer sein - eine Gruppe von sieben Frauen aus England, Frankreich, Holland und aus der Schweiz. Als Großformation wird das Berlin Jazz Workshop Orchestra vorweisen, was es unter der Leitung von John Tchicai im vergangenen Jahr erarbeitet hat. Einer der Newcomer wird Martin Theurer sein - ein noch unbekannter Pianist aus Witten.

Es geht also weiter, im zehnten Jahr, zum zwölften Mal. In der gelockerten Atmosphäre an der Potsdamer Straße kriegen bestimmte Leute das Frieren. Jazzpapst J.E. Berendt (der übrigens Chancen hat, zu den kommenden Berliner Jazztagen ausgeladen zu werden) wenn er mal kam, rang er sich ein gequältes Lächeln ab. Und der Studiotrompeterstar Brecker floh aus dem „Kartje“, weil er keinen fand, „über den und mit dem man sprechen muss“. Anderen geht es umso besser. Zum Beispiel Ernst-Ludwig Petrowsky aus der DDR, der die hemdsärmelige Stimmung als „befreiend“ erlebte.

aus: Tip-Magazin # 22, 1979

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