Wolfgang Sandner (1977)

Das Neue am alten Free Jazz

Gedanken über die jüngsten Veröffentlichungen von FMP

Der Free Jazz ist auch schon volljährig. Er wurde bereits 1959 in New York geboren. Seine Existenz kann zwar heute kaum mehr geleugnet werden, aber die Berechtigung zur Existenz wird gerade in jüngster Zeit, nachdem einige seiner Avantgardisten ihn mit retrospektivem Blick wieder verlassen haben, erneut in Frage gestellt. Grund genug allerdings für seine Verfechter, die Verweigerung der Anerkennung als Beweis für seine Legitimität anzusehen. Der Jazz hatte schon immer Protestcharakter, will man ihn ersticken, dann ist er umso notwendiger.

In seinen Anfängen besaß der Free Jazz ähnliche Konsequenzen wie die serielle Musik. Die Serialität führte zur totalen Improvisation. Heute wird die serielle Phase als historisch notwendig angesehen, als rein seriell möchte aber eigentlich kein Komponist mehr seine jetzige Musik verstanden wissen: die Serialität ist zur seriellen Technik relativiert worden. Auch die Bedeutung des Free Jazz für die Entwicklung des Jazz ist nicht umstritten, und viele Musiker, die nie zum Kern der Free Jazzer gehörten, selbst viele Rockmusiker verwenden Techniken, die ihnen der Free Jazz bereitgestellt hat. Anders aber als in der Neuen Musik gibt es im Jazz noch eine hartnäckig verfolgte Richtung des Free Jazz.

Besieht man sich anhand der neuesten Veröffentlichungen des wichtigsten europäischen Free Jazz Labels, der Berliner FMP (Free Music Production), diese Richtung einmal genauer, dann stellt man allerdings auch hier die Notwendigkeit fest, bereits von einer Post-Free-Jazz-Phase zu sprechen. Das vollkommen ungebundene, freie Reagieren auf die Mitspieler, die bisweilen chaotisch wirkenden Materialschlachten der sechziger Jahre sind nunmehr eine Ausdrucksmöglichkeit unter vielen des Post-Free-Jazz. Musikalisches Theater und Parodie, Musik über Musik, Verbindung historischer Jazzpraktiken mit neuen Spielprinzipien, Annäherung an die Neue Musik eines Ligeti, Penderecki oder Stockhausen, Ausnutzung musikalischer Extremwerte sind andere stilistische Aspekte des neuen Free Jazz, der sich eigentlich nur noch terminologisch gegenüber Veränderungen resistent erweist.

Immer wichtiger, auch bei FMP, werden Soloprodukionen, bei denen am deutlichsten festgestellt werden kann, wie die Erweiterung der technischen Möglichkeiten und damit der Ausdrucksskala im Free Jazz aus dem Spiel eines einstimmigen Instruments vollgültige, mehrdimensionale Kompositionen entstehen lässt. Peter Brötzmann, Gründungsmitglied der auf Musikerinitiative hin 1969 entstandenen Produktionsgemeinschaft FMP, ist da mit seiner Solomusik für Saxophon (FMP 0360) ebenso repräsentativ wie der Posaunist Günter Christmann, der seine eigene Produktion durch FMP vertreiben lässt und mit seinem eher an Vinko Globokars Klangexperimente als an Jazz erinnernden Spiel deutlich macht, wie sehr die Euphorie über Albert Mangelsdorff’s Spiel vergessen ließ, dass es auch noch andere kompetente Posaunisten des Jazz gibt. Brötzmanns Vorrat an musikalischen Vexierbildern, an originellen Klang- und Geräuschkombinationen und parodistischen Einlagen findet seine musikalische Entsprechung in den Aktionen des Cellisten Tristan Honsinger, der sein Instrument wie ein geiler Bock bespringt, die absonderlichsten Quietsch-, Kratz- und Klopfgeräusche mit gutturalen Lauten bis hin zum Zähefletschen kombiniert. (SAJ-10) Maarten van Regteren Altena ist da auf der B-Seite der Schallplatte als Bassist vergleichsweise „seriöser“, ohne dabei aber musikalisch-klanglich weniger zu bieten.

Limitiert, gefangen in eher traditionellen melodischen Konzeptionen wirkt dagegen die Solo-LP (SAJ-12) von John Tchicai, dessen bewegungsarmes Saxophon- und Flötenspiel streckenweise langweilt. Lichtblick auf dieser Platte: das fast poetische Duo mit Albert Mangelsdorff. Die Kontinuität der Jazzentwicklung bis zum Free Jazz demonstrieren die drei Bläser Herbert Joos (Trompete, Flügelhorn), Wolfgang Czelusta (Posaune) und Bernd Konrad (Saxophone, Klarinette) besser. Viele der Kompositionen ihrer Schallplatte „Blow“ (FMP 0370) besitzen Cooljazz-Gestus, die Kontrapunktik ist manchmal der eines Jimmy Giuffre verwandt; sie gerät aber in Überblaskadenzen, in aberwitzig virtuosen Läufen und in sperrigen Themenfetzen jedes Mal gewissermaßen aus den Fugen.

In weit stärkerem Maße wird bei der Gruppe des New York Saxophonisten Noah Howard die Nähe zu bereits Gehörtem, zu Vorbildern spürbar. Noah Howards hymnisch-modale Musik ist der eines John Coltrane verpflichtet; sie ist, im Vergleich zum europäischen Free Jazz beispielsweise, ungewohnt sinnlich, von fast betörendem Klangreiz und damit dem an den hermetischen, ohne alle aufnahmetechnischen Glätten produzierten FMP-Sound gewöhnten Ohr fast schon wieder suspekt. (SAJ-07).

Die Aufnahme mit dem Globe Unity Orchestra [vom Baden-Badener New Jazz Meeting 1975, (FMP 0380)] besitzt Beispielcharakter: in den Ensemblesätzen wird die Gewalt des Free Jazz demonstriert, in den Duo- und Trio-Konstellationen die Sensibilität des unmittelbaren Reagierens, in den Solopartien der geweitete musikalische Horizont. Bleibt eine interessante Schallplatte des Duos Heiner Goebbels-Alfred Harth (SAJ-08) zu erwähnen, das Kompositionen von Hanns Eisler (und eigene) auf Klavier, Akkordeon und Saxophon – um mit Adorno zu sprechen – die „Treue hält, indem sie sie bricht“. Sie kehren den Bänkelsong-Gestus, die Attacke des Eislerschen Tons in rotzigen Free-Jazz-Passagen hervor und vermeiden damit, was manche Sängerin dem Eislerschen Liedgut wieder antut: dummes Pathos.

aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Juli 1977

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