Klaus Achterberg (1976)

Wo sich jeder Freispielen kann

Es fing alles damit an, dass ein paar Berliner Musiker 1968 flugs ein eigenes „Festival“ organisierten, das eine ziemlich deutliche Kampfansage an die etablierten „Berliner Jazztage“ war. Das ganze fand damals im „Quasimodo“ statt, wo ein Schild am Eingang warnte, dass Jazzkritiker den doppelten Eintrittspreis zu zahlen hätten – so unverholen zeigte man zu jenen Sturm- und Drang-Zeiten einer neuen Generation von (freien) Musikern seine Aversion gegen die gesamte eingefahrene Szene. Im Quasi ging’s damals rund. Alle waren da, die heute auf der Free-Jazz-Szene (Rang und) Namen haben, hinzu kamen Leute wie John McLaughlin, derzeit noch nicht im Vermarktungs-Prozess begriffen, und die Stars der offiziellen Festivals, Pharaoh Sanders und Sonny Sharrock, die sich in den langen Nächten erst hier richtig Freispielen konnten. Doch so gut und wichtig diese erste Euphorie auch war, - man kam nicht umhin, der Sache eine feste Struktur zu geben, wollte man weiterhin erfolgreich arbeiten: So entstand auf Betreiben der Initiatoren Jost Gebers und Peter Brötzmann im Sommer 1969 die „Free Music Production“, der als „Gesellschafter“ außer den genannten Peter Kowald, Alexander von Schlippenbach und Detlef Schönenberg angehören.

Zu den festen Mitgliedern zählen weiterhin Rüdiger Carl, Irène Schweizer und Hans Reichel. Der sogenannte äußere Kreis besteht aus Musikern wie Paul Lovens, Günter Christmann, Frank Wright, Han Bennink, Manfred Schoof und Albert Mangelsdorff. Diese Leute haben entweder keine eigenen Gruppen, oder sie sind bei kommerziellen Plattenfirmen unter Vertrag. „Mangelsdorff können wir eben noch nicht das bieten, was er bei der MPS kriegt,“ erklärt Gebers, „aber wenn die Tendenz positiv bleibt, wird das eines Tages der Fall sein.“

Man ist so frei
Seit 1969 finden nun alljährlich die beiden Workshop-Reihen „Total Music Meeting“ (während der Jazztage, seit vier Jahren im Quartier Latin) und „Workshop Freie Musik (im Frühjahr in der Akademie der Künste) statt. Darüber hinaus gibt es in Berlin eine über das Jahr verteilte Reihe von Konzerten mit einzelnen Musikern oder Gruppen, die ebenfalls von der FMP bzw. von den beteiligten Musikern selbst organisiert werden, - beispielsweise die „Free Concerts“ im Rathaus Charlottenburg, bei denen nicht nur die Musik, sondern auch der Eintritt frei ist. So ist der freie Eintritt für alle Besucher überhaupt eins der Ziele der FMP. „Wir wollen das so, dass jeder Schnösel in unsere Konzerte rein kann, der keinen Pfennig in der Tasche hat“, formuliert drastisch Peter Kowald, Bassist im Brötzmann-Quartett und (neben Schlippenbach) Mit-Initiator des Globe Unity Orchestras.

Das klappt natürlich noch nicht so ganz, wenn auch die Eintrittspreise 7 Mark nie überschreiten. In der Akademie kommt man dank der Zuschüsse mit Preisen um 2 Mark aus. Die Musiker nehmen dafür freilich in Kauf, oft ohne Gage zu spielen. Beim „Total Music Meeting 73“ beispielsweise ging jeder einheitlich mit einer Fünf-Tage-Gage (etwa zwölf Stunden auf der Bühne) von 500 Mark nach Hause. Obwohl Brötzmann, Schlippenbach, Lovens und Kowald damals ihr nicht unbeträchtliches Honorar, das sie für ihren Auftritt bei den Jazztagen in der Philharmonie bezogen, der FMP zur Verfügung stellten.

Spenden gibt es übrigens auch von (meist ungenannt sein wollenden) Privatpersonen, die zum Teil außerhalb Berlins wohnen und zu den wichtigen Festivals der FMP oft mit der ganzen Familie anreisen. Nur von offizieller Seite (die Akademie-Subvention ausgenommen) war lange Zeit nichts locker zu machen.

Jazztage hin – Subventionen her
Während die Berliner Jazztage, deren Attraktivität (wie Organisator Ralf Schulte-Bahrenberg selber zugesteht) mittlerweile auch auf der Existenz des Anti- oder besser Neben-Festivals beruht, seit jeher mit Unsummen von der ARD und den Berliner Festwochen finanziert werden, rührte sich für die FMP in dieser Hinsicht erst 1973 etwas: Das Festspiel-Büro spendierte 5000 Mark, - eine Summe, die im Vergleich zu anderen Aufwendungen der Berliner Festwochen wie ein Anerkennungs-Honorar anmutet, und Schulte-Bahrenberg zeigte sich ebenfalls großzügig und unterbreitete, nach jahrelangen Querelen, der FMP ein Friedensangebot in gleicher DM-Höhe.

Für ihn besteht die Frage, „wie man die FMP an den Erfolg der Jazztage anhängen kann“. Eine Schwächung des offiziellen Festivals zugunsten der FMP kommt für ihn natürlich nicht in Frage. Immerhin ist die Kooperation inzwischen soweit gediehen, dass er die FMP-Prospekte gemeinsam mit seinen Jazztage-Programmen an 1500 westdeutsche Interessenten verschickt.

Um das Thema Finanzen abzuschließen: Von 1968 bis 74 „erwirtschaftete“ die FMP bei den beiden Workshops, trotz einiger Zuschüsse, ein Minus von insgesamt rund 13.000 Mark, das von dem Musiker-Kollektiv FMP (z.T. aus Plattenverkaufs-Erlösen) abgedeckt wurde. „Diese Situation „, so heißt es in einer FMP-Verlautbarung, „auf der einen Seite Basis-Arbeit an einer kultur-politisch vernachlässigten Musikrichtung, auf der anderen keinerlei entsprechende Unterstützung (die Berliner Sender machen keine Mitschnitte, keine Produktionen), ist inzwischen für die FMP untragbar geworden.

„Um die Arbeit, an der auch zum Teil die Jazztage und Jazz in the Garden partizipieren, weiterführen zu können, muss eine entsprechende Unterstützung vorhanden sein“. In konkreten Zahlen fordert die FMP für das „Total Music Meeting 76“ 40.000 Mark und für zehn jeweils dreitägige Konzerte weitere 20.000 Mark.

Die genannten Zahlen könnten nun bei Leuten, die die Musik und die Arbeit der FMP und ihrer Mitglieder noch nicht kennen, den Eindruck erwecken, es gebe eben kein Publikum für die Art von Musik. Dem ist aber durchaus nicht (mehr) so: Seit vier Jahren stets „ausverkaufte“ Säle bei beiden Workshops sprechen eine deutliche Sprache, auch wenn die Popularität bzw. das Interesse (an) dieser Musik zweifellos im Vergleich zu großen Rock-Darbietungen leider immer noch gering anmutet. Die finanzielle Misere ist eben im Konzept begründet: Möglichst viel (Quanti- und Qualität) für so wenig wie möglich Geld anzubieten.

Der grundsätzliche Gedanke ist, die unterschiedlichen Aspekte der zeitgenössischen Jazzmusik von den wichtigen Innovatoren und ihren Gruppen zu präsentieren – und dies in für Musiker und Publikum adäquater Umgebung. So sind, von den festen Mitgliedern einmal abgesehen, folgende wichtige Musiker auf Initiative der FMP nach Berlin gekommen, lange bevor die etablierten Veranstalter zugegriffen haben: Evan Parker, Derek Bailey, Willem Breuker, Spontaneous Music Ensemble, Tony Oxley Sextett, Iskra 1903, Burton Greene, Steve Lacy, Frank Wright Quartett, Jan Garbarek, Dollar Brand, Vinko Globokar, Lol Coxhill, Steve Miller, Noah Howard… Jost Gebers, hauptberuflich Sozialarbeiter, der sich den „zentralen Organisations-Fritzen“ nennt, sieht das so: „Bei uns soll die Musik vorangebracht werden. Wir wollen Impulse geben und lassen uns auch nicht entmutigen, wenn eine Gruppe, deren Musik noch fremd und unverständlich scheint, beim ersten Mal nicht ankommt. Wir engagieren sie wieder. Wir schaffen Hörgewohnheiten. Hier sollen die Typen ruhig erstmal staunen und sich fragen. Was macht der da eigentlich? Dann sollen sie auch ruhig mal rausgehen aus dem großen Saal und ein Bier trinken. Oft spielen hier Musiker, die überhaupt niemand kennt. Gestern stehen plötzlich zehn Leute auf der Bühne, die noch niemand vorher gesehen hat, und machen etwas“.

George Gruntz, der künstlerische Leiter der Berliner Jazztage, hat dies Andersgeartete einmal sehr fair so formuliert: „Bei uns wird die Musik vorgestellt. Bei Euch passiert sie“.

Und, wie ein weiterer Beobachter, nicht ganz unsymptomatisch, am Beispiel der Musik des Peter Brötzmann Quartetts formuliert: Man versteht Brötzmanns Allergie, der sich nicht mehr als Free-Jazz-Musiker festlegen lassen will. Denn in der Tat ist hier Populär-Kitsch und Strawinsky-Sound, ist hier Bebop-Tradition und Free-Jazz-Emphase in einen großen Improvisationsstrom zusammengefasst. Die Musik hat Swing, wie nur je traditioneller Jazz, die Phrasen sind nervös, gelenkig, wir nur im Bebop, und sie sind andererseits von einer berstenden Intensität wie am Beginn des Free Jazz.

Was gegenwärtig gedacht wird
Bennink, der große Clown des Free Jazz, er sorgt zudem dafür, dass die Musik nicht zu teutonisch wird, dass sie locker, elegant und auch hinreißend zupackend bleibt. Hier, so scheint mir, ist auf der Ebene der Jazz-Improvisation eine Höhe der Differenziertheit erreicht, von der in der vieldiskutierten Avantgardemusik immer nur geträumt wird. Das ist im besten Sinne Neue Musik. Eine nämlich, die in der Tat das, was gegenwärtig gedacht wird, zusammenzieht und ausformuliert. (Zitat Ende)

Übrigens gibt es auch Platten von der FMP, allesamt (inzwischen ca. 30) selber produziert und bis vor kurzem auch ausschließlich selber (bei Konzerten) unter die Leute gebracht. Die eine oder andere gehört gewiss in den Plattenschrank eines auf Vollständigkeit der vertretenen Stilrichtungen bedachten Sammlers. Empfehlenswerter ist es aber in der Tat, die Sache live zu erleben, denn diese Musik wird erst dann so blutvoll erlebt wie gespielt.

Klaus Achterberg (unter Verwendung von Materialien der Kollegen Wolfgang Burde, Werner Burkhardt und Werner Panke – bei Nichtverwendung von Jörg-Alisch-Beiträgen)

aus: Kulturanzeiger (Berlin) # 2, April/Mai 1976

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