Snapshot - Jazz Now/Jazz aus der DDR

Jürgen Engelhardt (1980)

Einige Anmerkungen zur Ästhetik des DDR-Jazz

I Jazzmusik statt/oder Volksmusik
„Ich finde, man kann sich hierzulande nicht einfach hinstellen und nachspielen, was amerikanische Musiker entwickelt haben. Man kann es machen, aber es bringt nichts - das heißt, es bringt vielleicht Geld. Es ist wichtig, sich auf eigene Traditionen zu besinnen, die man ohnehin mit sich herumträgt wie einen Rucksack. Ich bin in einer Umgebung aufgewachsen, in der ich viele Volkslieder hörte, aber erst Anfang der siebziger Jahre habe ich mich bewusst mit Volksmusik beschäftigt."
(Ulrich Gumpert) 1)
Für den amerikanischen Jazz im westlichen Nachkriegsdeutschland, kurzerhand deutscher Jazz genannt, existierte die eigene Volksmusik nicht: Jazz statt/oder Volksmusik war öffentliches Verdrängungsmittel, gemeinschaftlicher Ersatz für kollektives Bewusst-Sein. Swing war Aufatmen. Nur in der Pädagogik hantierte man weiterhin und ungebrochen mit Volksmusik. Man wusste, dass deutsche Sänger keine Zwischenfragen lieben. Im Jazz fasste man, wenn schon, dann Volksmusik nur vereinzelt an und auch nur dort, wo der Faschismus ideologisch nicht hingelangt hatte:
„Aber es geht in diesem Zusammenhang nicht nur um Asien. es geht einfach um die Öffnung gegenüber musikalischen Kulturen und musikalischen Bereichen, die früher für den Jazz nicht zu existieren schienen. In Deutschland gehört dazu auch die eigene Tradition, zu der der deutsche Musiker seit je ein gestörtes Verhältnis besaß - und besitzt. (…) Albert Mangelsdorff und seine Musiker wurden 1964 immer wieder gefragt, warum sie denn keine Stücke aus der deutschen musikalischen Vergangenheit im Programm hätten. Wir waren uns einig: Das was üblicherweise in Deutschland als „Volksmusik" gilt, war nicht zu verwenden. Ich ging deshalb, als wir unsere Asien-Tournee vorbereiteten, in die alte große Zeit der deutschen Volksmusik zurück, ins 12.,13. und 14.Jahrhundert, als viele unserer Lieder-ähnlich wie der zeitgenössische Jazz, ähnlich wie die asiatischen Themen, die Albert gewählt hatte - noch ,modal' waren." 2)
Volksmusik als Exotikum. Fremd im eigenen Land.
Volksmusik als plebejische Musik, als naive und ästhetisch komplexe Kompensation und sozial utopischer Entwurf, liegt brach. Das ist wichtig, wenn wir Jazz aus der DDR betrachten werden, denn die eigene musikalische Sozialisation hört immer mit.
Erst jüngst übrigens nähert sich das (junge) Volk wieder seiner -musik. Dafür steht ihm der neutralisierende Terminus „Folk" zur Verfügung. Man spielt Folksmusik.

In der DDR war es umgekehrt.
Der britische Feldmarschall Montgomery hatte gesagt: „Wenn wir den kommunistischen Osten nicht mit der der Waffe erobern können, dann mit der Jazztrompete" 3), und die DDR hielt sich daran:
„Jazz, aufgrund seines Ursprungs im Faschismus als ,entartet', als ,Nigger'-Musik denunziert und unterdrückt, kam nach dem Krieg zunächst und ausschließlich als amerikanische Musik in den damals herrschenden Richtungen Bebop, Hardbop und Cool Jazz nach Deutschland, in der Form konsumiert und von den einheimischen Musikern in den überlieferten Formen reproduziert. Da der Jazz Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre noch eine bestimmte ideologische Funktion in der Kulturpolitik der westlichen Besatzungsmächte zugewiesen erhielt, wurde er bei uns damals weitgehend abgelehnt." 4)
Die DDR setzte auf das Volk und aufs Volkslied, zumeist ohne -tümlichkeit und Tüdeligkeit. Die wohl beste Edition „Deutsche(r) Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten" erarbeitete Wolfgang Steinitz, Hanns Eisler schrieb „Neue deutsche Volkslieder"
Volksmusik statt/oder Jazz.

II Das Volkslied als Rückgrat
Ästhetische Möglichkeiten
Das Volkslied ist für den zeitgenössischen DDR-Jazz anfangs der 70er Jahre zugleich Materialspender und Katalysator, um den ästhetischen Diktionen des amerikanischen Jazz-Urbilds auf eigenständige und gültige Weise zu entkommen. Der westliche Stiefvatermord an Swing und Metrum konnte kaum übernommen werden, ein den Protestregeln der Studentenbewegung, des Krisengefühls entsprechendes Austoben im totalen Klangraum war unangebracht, weil es ästhetisch wenig zu morden gab. Natürlich spielte man auch Geräuschetüden, aber die Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition lag näher:„Die Jazz-Tradition ist für mich in methodischer Hinsicht, die europäische Tradition in Hinblick auf eine Aussage wichtig", 5) sagt Gumpert und tatsächlich hat das Volkslied ästhetische Möglichkeiten, die dem Blues in seiner inhaltlichen Spannung und seiner historischen Funktion durchaus vergleichbar sind. Ebenso wie der Blues speist es die Improvisation mit Material, gibt ihr Form und Struktur, Anhaltspunkte für eine zu entwickelnde Musiksprache, ohne in ihr je aufzugehen. Es verändert, ohne sich selbst zu verändern. Als „Rückgrat" ermöglicht es, in freier Improvisation, die sich auch von der mitgeschleppten Tradition befreit, zu einer eigenen, gesellschaftlich relevanten, ästhetischen Identität zu kommen. Der Unterschied zum Blues ist nur, dass das Volkslied immer auch im Widerstreit plebejischer Utopie und herrschaftlichen Missbrauchs stand. Es ist so gleichermaßen geeignet, abschüttelndes Kaputtspielen und Setzen neuer ästhetischer Maßstäbe zu leisten. An die Stelle des nur zitierten, nur benutzten Volksliedes, das ganz andere historische gesellschaftliche Verhältnisse meint, kann sich im weiteren Verlaufe eine selbst produzierte Volkstümlichkeit entwickeln. Denn ohne Frage - es ist mein Eindruck seit dem ersten Hören von DDR-Jazz - ist der Jazz der Gumpert, Sommer, Petrowsky volkstümlicher, realistischer, lehrreicher und lustvoller als der meiste New Jazz bei uns, der sich immer noch streng zwischen Freier lmprovisation und Komik aufteilt.
Das Verblüffende ist, dass die verschiedenen musikalischen Quellen, aus denen sich der DDR-Jazz zusammensetzt, in relativ kurzer Zeit zu eine knappen, aberverständlichen, einheitlichen, aber in sich komplex-widersprüchlichen Musiksprache geführt hat: „Ich glaube, vieles geht ineinander über, die wirklich empfundene und die mit ironischem Abstand benutzte Tradition. Ich rede gern von konkreter Musik, nicht im Sinne der musique concrete, sondern im Sinne von Direktheit, von direkter Bezogenheit auf Anliegen und Publikum. Wenn etwas knapp und direkt formuliert wird, ist die Chance, dass beim Publikum etwas hängen bleibt, größer. In dieser Hinsicht kann man von Hanns Eisler und Bertolt Brecht einiges lernen. 6)
Nicht nur von ihnen. Mit ideologiekritischem Feingefühl, ästhetischem Sachverstand und instrumentaltechnischem Können sind zusammengeflossen:
- die ästhetischen Emanzipationen, die der westliche Free Jazz in der „Verfransung" (Burde) mit der kunstmusikalischen Avantgarde entwickelt hat (neue Formstrukturen, offener Werkbegriff, Klangfläche, Klangfarbe und die Gleichberechtigung des Geräuschs, ein neu strukturiertes Zeitgefühl), - die Volksmusik, - die stattliche europäische Kunstmusik und die künstliche europäische Staatsmusik, die sich daraus nährt, - der amerikanische Jazz in seinen modernen Stilausprägungen, - die Verfahren von Montage, Parodie, Verfremdung, wie sie in der gesellschaftlich engagierten, antiromantischen Kunst als ästhetischer Reflex auf den Ersten Weltkrieg in den 20erJahren entwickelt wurden. Auf zwei der Aspekte soll näher eingegangen werden: auf das Volkslied als ästhetische und Materialgrundlage und auf Parodie und Verfremdung. Die folgenden Schallplatten wurden in die analytische Betrachtung einbezogen:

Verwendete Schallplatten:
Jazz-Werkstatt-Orchester: Aus teutschen Landen, Suite nach Motiven deutscher Volkslieder; Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht -Tanz mir nicht mit meiner Jungfer Käthen - Der Maie, der Maie - Es saß ein schneeweiß' Vögelein - Kommt ihr G'spielen. Rec.: 4. 9. 1972 „Jazz in der Kammer" Nr. 48 Berlin. Amiga Jazz 8 55 549.
Ernst-Ludwig Petrrowsky Quartet: Just for fun; Zugabe - Just For Fun - Bohnsdorf - Tango I - Tango II - Ohne mich - Sonatta. Rec.: 29. 4. 1973 Rundfunk der DDR, Berlin. FMP 0140.
Gumpert-Sommer-Duo plus Manfred Hering: The Old Song; Ein Holz für Angelika - Wiesenlied - Sommers faife - Wo bleibt mein schwarzer Krauser - dipp-dapp - The Old Song - A New Song - s'Inlett –Duo - s'Inlett- Aus teutschen Landen - Juschis MurmeIn. rec.: 17./18. 7. 1973 Rundfunk der DDR, Berlin. FMP 0170.
Synopsis: Auf der Elbe schwimmt ein rosa Krokodil; Krisis eines Krokodils - Zweisam - Auf der EIbe schwimmt ein rosa Krokodil - Petting zu „Take IV" - Take IV - Mehr aus teutschen Landen a) Saß ein schneeweiß' Vögelein, b) Tanz mir nicht mit meiner Jungfer Käthen. Rec.: 5./6. 3. 1974 Rundfunk der DDR, Berlin. FMP 0240.
Gumpert-Sommer-Duo:….jetzt geht's Kloß!; Kloß 1 - Kloß 2. Rec.: 30. 1. 1978 „Jazz in der Kammer" Nr.102 Berlin. FMP 0620.
Ulrich Gumpert Workshop Band: Unter anderem: N' Tango für Gitti; Marsch, Marsch - Königskindisch - Aus Baby's Wunderhorn - N'TangofürGitti - Auf der Elbe schwimmt ein rosa Krokodil - Jubilee Suite. Rec.: 14. 7. 1978 Rundfunk der DDR, Berlin. FMP 0600.
Ulrich Gumpert Workshop Band: Echos von Karolinenhof; Hahnenkopf - Septettfragment - Blaue Blusen Blues - Echos von Karolinenhof - Hilferuf einer Schnecke. Rec.: 1./2./4.3. 1979 Workshop Freie Musik, Berlin. FMP 0710.
Gumpert-Sommer-Duo: Versäumnisse. Rec.: Workshop Freie Musik 1979, Berlin. FMP 0740. Brötzmann/Van Hove/Bennink: Einheitsfrontlied. FMP S 3. Heiner Goebbels/Alfred Harth: Hommage/Vier Fäuste für Hanns Eisler. SAJ-08.

Improvisationsmaterial
Der konkrete Umgang mit Volksmusik ist der Ausgangspunkt des neueren DDR-Jazz. Dass er nicht Ziel, sondern Stadium kritisch-ästhetischer Auseinandersetzung ist, zeigt sich in der Chronologie des vorliegenden Plattenmaterials: Im Laufe der Jahre verliert sich die originale Volksmusik immer mehr, bis hin zum Zitat des bloßen Gestus, der einzelnen Phrase.
Zwei Dinge mögen Gumpert am Volkslied gereizt haben, der Umgang mit verschiedenen Tonsystemen (Modalität/Dur-Moll) und die rhythmische Vieldeutigkeit.

1.Tonalitätsspannungen
Ein wichtiges Entwicklungsprinzip des amerikanischen Jazz ist, ausgehend von der Blues-Kadenz und europäischen Tanzformen, die ständige Erweiterung der harmonischen Beziehungen. Dabei ist die Spannung zwischen vieldeutigen Blue Notes (die selbst aus der Kreuzung von Tonsystemen, afrikanischen und europäischen, entstanden sind) und dem improvisatorischen Ausdeuten eines harmonischen Gefüges der ständige Wechselimpuls für neue musikalische Formungen. In seinen Volksliedbearbeitungen „Aus teutschen Landen" benutzt Gumpert eine ähnliche initiatorische Spannung zwischen modalen (Kirchen-) und Dur-Tonarten.

Beispiel:
Die Tonalität von „Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht"(Volksweise, 1807 aufgezeichnet von L. Erk) ist aeolisch:

Man könnte die Tonart, aufgrund der inneren Struktur der Melodie, auch als hypodorisch auf e bezeichnen (mit dem Tenor auf c) - gleichgültig. Wichtig ist nur die „stumpfe", archaische Geschmeidigkeit, die von der Melodieführung ausstrahlt und wichtig ist ebenfalls, dass Kirchentonarten am „richtigen" geographischen und geschichtlichen Ort, nämlich in Mitteleuropa, originär in den Jazz aufgenommen werden. Bis heute ist ja ungeklärt, wie die modalen Tonarten, die vom frühen Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert die Grundlage abendländischem Musizierens bildeten, in den fünfziger Jahren im amerikanischen Jazz als Improvisationsmaterial auftauchten: Weder die Kirchentöne (noch auch die indischen Raga Modelle) können aus historischen Gründen die direkte Quellen für Coltrane und Miles Davis gewesen sein. Und wichtig scheint mir auch, dass Gumpert die modalen Volkslieder benutzt und nicht auf das ebenfalls verfügbare Material geistlicher Musik aus Mittelalter und Renaissance eingeht. Das Volkslied in seiner kurzen, knappen, gleichsam thematischen Struktur scheint ideal für die Improvisation.
Gumpert aber „präpariert" das Lied zunächst als harmonisch eng geschlossenes Thema mit Dur-Terz. Die Improvisation (besonders die von Klaus Richter, tp,) kann es so „öffnen", indem es aeolisch und A Dur kontrastiert, improvisierend ineinander webt: Ein eigenartiges harmonisches Schweben, eine statische Beharrlichkeit tritt als musikalisches Grundgefühl in Kraft.

Anderes Beispiel
ist die originale Dur-Tonalität von „Tanz mir nicht mit meiner Jungfer Käthen". Conrad Bauer, tb, changiert die Tonart, indem er improvisierend die Grundtöne und damit den Tonraum versetzt. F-Dur, in der das Lied gehalten ist,

wird also durch die Verschiebung des Tonraumes in mixolydisch auf C umgewandelt:

Die Spannung zwischen fest fortschreitendem Dur (eingefangen im verlängerten Liedrhythmus des Schlagzeugs) und mixolydischer „Statik" ergibt ein räumliches „swingendes" Schweben, das zum harmonischen Spannungsraum des Blues, umgrenzt vom rhythmischen Stampfen, ganz ähnlich konstruiert ist, aber doch ganz eigenständige ästhetische Wertigkeit aufweist.

Und noch ein Beispiel:
Dieses bluesorientierte „räumliche, swingende Schweben" kann auch direkt innerhalb der modalen Skala erzeugt werden, wie Petrowsky in seinem inzwischen personaltypisch gewordenen Improvisationsstil über „Der Maie, der Maie" es zeigt:

(Gumpert benutzt nicht immer die Volkslieder als Ganzes, sondern oft auch nur die für diese Zwecke „interessanten" Teile als Quasi-Themen!) Aus dem Volkslied/Thema ist gewonnen: die Spannung der Quint, der Septime und der kleinen Terz. Deutlich ist der Bezug zur Blues-Tonleiter:

Petrowsky nun nimmt sie allerdings nicht linear-melodisch, sondern in räumlicher Vorstellung, misst gewissermaßen improvisatorisch die Innenarchitektur der ,blueshaltigen' mixolydischen Tonräume aus. Er füllt sie mit schnellen statistischen Strukturen die wie in Hitze diktiertes stenographisches Saxophon Kürzel wirken:

Dass diese Improvisationsstrukturen nicht zufällig sind, zeigt sich auf den weiteren, späteren Platten (vgl. zum Beispiel das Stück „Just for fun" auf der gleichnamigen LP). Heute ist der Petrowsky-Stil an diesen, räumlich orientierten Improvisationsfiguren widererkennbar. So auch, wenn ein paar Jahre später die „Echos von Karolinenhof" in preußisch praller Fanfaren-Pathetik widerhallen:

In der klaren C-Dur Akkord-Intonation liegt der ,Widerhaken' Iydischer Tonalität versteckt, mit dem typischen Tritonus c-fis, in früheren (Barock-) Zeiten diabolus in musica genannt. Das schelmische Zerpflücken vollzieht sich dann auch vor allem über dieses Intervall. Dieses ästhetische Spiel mit historisch verschiedenen Tonsystemen bedeutet natürlich zugleich auch das Aneinanderreiben verschiedener Musiksprachen, das ästhetische Gewohnheiten zerfrisst. Es setzt sich im Gumpert-Umkreis auf verschiedenen Platten fort. Zum einen werden die Volkslied Bearbeitungen in noch schärfer konturierten Fassungen wieder aufgenommen. 1973: The Old Song: „Aus teutschen Landen"(„Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht"); 1974: Auf der Elbe schwimmt ein rosa Krokodil: „Mehr aus teutschen Landen" („Saß ein schneeweiß Vögelein" und „Tanz mir nicht mit meiner Jungfer Käthen").
Zum anderen wird, was zunächst ausprobierender Ernst war, später eine ernstzunehmende parodistische Kraft. Das „Krokodil" Thema von Sommer, das von 1974 (Auf der Elbe schwimmt ein rosa Krokodil) bis1978 (N'Tango für Gitti) immer wieder verwendet wird, nutzt ebenfalls die räumliche, körperliche Wirkung, die die Kreuzung von modalen und Dur-Tonarten erzeugt. (Alle Plattenbeispiele, abgesehen von den Volksliedern, sind hörnotiert):

Übrigens: Den Titel (Auf der Elbe schwimmt ein rosa Krokodil) in seiner vieldeutigen Eindeutigkeit interpretieren zu wollen, macht 1. seinen Reiz aus, ist 2. wohl auch beabsichtigt und ist 3. überflüssig, wenn man die Musik hört, diese sarkastische Formel eines naiven kollektiven Staunens.
Dieses ästhetische Spiel mit einem durchforsteten und neustrukturierten Tonraum hat auch seine historischen Wurzeln. Sie liegen bereits voll entwickelt vor in den ästhetischen Verfahren Eislers, mit dessen Musiksprache Gumpert und Sommer (auch Petrowsky?) gleichsam groß geworden sind. Das große kompositorische Vorbild in der DDR funktionalisierte bereits Ende der zwanziger Jahre die Kirchentonarten, die ästhetisch tot in der Geschichte herumlagen, zu neuer Konstruktion im kadenzialen Dur-Moll Muster. Weit auseinander liegende Musikgeschichte kam so auf einen archaisch modernen Punkt, Eisler fand zu einer populären und doch komplex strukturierten, zu einer scharfen und aggressiven, in ihrer Vieldeutigkeit sehr eindeutigen Musiksprache. Gumpert, nach „konstruktiven Ansatzpunkten" befragt, bestätigt allgemein den Bezug:
„Die erste Realisierung dessen, was mir vorschwebt, war - wir sprachen schon darüber - die Suite „Aus teutschen Landen". Dabei wird es sicher nicht bleiben. Darüber hinaus sehe ich Ansatzpunkte in der Jazzentwicklung, etwa bei Thelonious Monk, bei Cecil Taylor, bei den ,Holländern' um Willem Breuker und Misha Mengelberg und natürlich auch in der zeitgenössischen so genannten E-Musik; Hanns Eisler nicht zu vergessen!". 7)
Man kann es auch anders formulieren: Volkslied, Bebop und Free Jazz, Parodie und Komik des Naiven, die Geste des Klassischen und der gesellschaftlich-ästhetische Bezug gehen, gegenseitig aufeinander verweisend, eine neue Synthese ein.

(Kurze Zwischenbemerkung)
Während Gumpert an die konkreten ästhetischen Verfahren Eislers anknüpft, zeitigt die Beschäftigung westlicher Jazzmusiker mit Eisler andere, nicht minder interessante Resultate, vorläufig allerdings mehr Randerscheinungen der Avantgarde-Szene: Brötzmann, Van Hove und Bennink röhren (allerdings nur eine Single lang, FMP S3) ihre Kraft und Intensität spuckende Kunst am Einheitsfrontlied heraus. Das Duo von Heiner Goebbels und Alfred Harth hat sich, so höre ich jedenfalls ihre Musik, auf die Brecht/Eislersche Einsicht vom Materialwert kapriziert. Zunächst an Eislerschen Stücken aus der Weimarer Zeit selbst, dann auch auf die Tradition ausgeweitet, versuchen sie, improvisierend die emotionale und historisch-gedankliche Kraft vergangener Musik auszukosten und für aktuelle politische Erfahrung wiederzubeleben: von Rameau bis zum irischen Volkslied, von Robert Schumann bis zum spanischen Bürgerkriegslied.
So gibt es also Gemeinsamkeiten zwischen West und Ost? Die kulturpolitische DDR-Wochenzeitschrift „Sonntag" hat schon den Grund dafür herausgefunden: „Diese Begegnungen (zwischen westlichen und östlichen Jazzmusikern, d. Verf.) sind besonders interessant unter dem Aspekt, dass Jazz in diesen Ländern kaum in die manipulierte kapitalistische Unterhaltungsindustrie integriert ist, sich selbst - jedenfalls mit seinen progressivsten Vertretern - als eine Alternative zur kommerzialisierten Musik, praktisch als Teil einer zweiten Kultur versteht. Begegnungen mit Musikern und Gruppen aus der BRD (Brötzmann, Mangelsdorff, Schlippenbach und anderen), aus England und Holland waren daher für die Entwicklung bei uns sehr anregend und förderten das Selbstverständnis auch über die Funktion des Jazz in unserer kulturellen Szene." 8)

2. Rhythmische Vieldeutigkeit
Die harmonischen Spannungen zwischen Bluestonleiter und harmonisch-inhaltlicher Erweiterung finden bekanntlich ihre Entsprechung im rhythmisch-metrischen Bereich. Dort ist es das Sich-Reiben des afrikanischen Musikzeit-Gefühls an westlicher Form. Stichworte wie Polyrhythmik, off-beat, Swing, Timing genügen, um das Gemeinte zu umreißen.
Eine ganz eigene Ästhetik des Rhythmus ist im DDR-Jazz aus der Begegnung von freier Improvisation und Volkslied entwickelt. Sie erscheint roher und schwerer, lastiger, ist von einer geradezu archaischen Naivität und Kraft, für die Günter Sommers Schlagzeugspiel exemplarisch steht. Der spieltechnische, improvisatorische Umgang mit „Tanz mir nicht mit meiner Jungfer Käthen" zeigt das Volkslied auch als Katalysator solch rhythmischer Komplexität und Intensität. Oder andersherum gesagt: Wenn man Sommer hier trommeln hört, weiß man, woher Sommers Trommeln kommt:

Ganzer gerader Takt, Drei-Halbe-Takte und Vier-Viertel-Takt:
Ergebnis ist eine rhythmisch-metrische Schichtung, die, im angezogenen Tempo zu „swingen" beginnt und zwar (wie soll man's anders bezeichnen?) auf eine sehr deutsche, sehr gute Weise.

III Volkslied: Bindung und Befreiung
Wird das Volkslied einerseits katalysatorisch benutzt, um rhythmisch-harmonische Qualitäten zu produzieren, so dient es gleichzeitig auch als Abstoßen vom ,festen Ufer' ästhetischer Verbindlichkeiten, hin zu einem Standort, wie Sommer ihn allgemein anspricht: „Mich interessierte es….zunehmend, meine Alltagsrealität - die akustische, individuelle, soziale - auch musikalisch aufzunehmen und zu verarbeiten." Ein Schlüssel-Stück ist hierfür die bereits erwähnte Fassung von „Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht" auf The Old Song (1973). Drei Phasen sind deutlich zu unterscheiden.
Nach dem Vorspielen des (original in äolisch stehenden) Liedes im präparierten Dur entsteht (1.) ein imitatives Gefüge zwischen Klavier und Saxophon. Gumpert wiederholt die Motive der präparierten Melodie, bis sie vereinzeln, den Zusammenhang verlieren, auseinander fallen, zusammenhangslos banal werden. Die Motive sind plötzlich auf den nachdrücklichen Gestus des Einzeltons reduziert, aus gefügter Form ist bloße Formel geworden, scheinbar beliebig. Darüber (2.) entwickeln Hering (ts) und Sommer eine sich steigernde Intensität, die, umso mehr sie destruiert, desto dichter, kräftiger, in sich schneller wirkt. Und Sommer montiert hier erstmals (zumindest erstmals dokumentiert) die erdige volkstümliche Marschpauke mit herkömmlichen Jazz-Spielweisen, mit flirrenden, metrum-befreiten Hardbop-Figuren auf dem Becken zusammen. Auf dem Höhepunkt dann der obligatorische Sommer-Schrei: Fast als Bestätigung, aus welcher Herkunft Sommer die eine Hälfte seines Schlagzeugs begreift, erklingt zum Schluss, gleichsam als Reprise, um sich daran festzuhalten, die polyrhythmisch stark betonte Fassung von „Tanz mir nicht mit meiner Jungfer Käthen". Hier langt Sommer noch mal zu, so wie wir ihn mittlerweile kennen.
Trotz Zerspielens mit Wut, Naivität, Pathetik, Autorität ist das Lied nicht kaputtzukriegen. Soll es vielleicht auch nicht?
Nach kurzem pianistischen Anspielen der Mollterz (3.), die daliegt wie ein aus Versehen angestolperter Blueston, wippt es wie ein Stehaufmännchen in seine Originalgestalt zurück, mit einem romantischen, versöhnlichen Akkordschluss „Wenn Romantisches einfließt, wird es - mehr oder weniger bewusst ironisch behandelt. Im Duo mit Günter Sommer beispielsweise stellt Ironie für uns ein Transportmittel dar. Wir benutzen Zitate im Sinne von: „Merkt ihr nichts Leute…." 9). Das Volkslied, ein Jahr zuvor in der Original-Suite „Aus teutschen Landen" noch ästhetische Bindung, noch klamm und ein wenig trocken ausprobiert, wird hier in die Distanz gestellt, wird parodiert. Aber nicht das Volkslied als solches, sondern in seiner ideologischen Handhabung als romantisches Klebemittel für soziale, nicht mehr aushaltbare Widersprüche und als faschistisches Exerziergut für die Jugend. Beide Funktionen erscheinen ineinander verwoben: Marschgesten, Fanfaren, versöhnliches Terzengedudel und seicht perlender Akkordschluss denunzieren mit kritischem Elan die herrschaftliche Perversion.
Das Volkslied, nach einer kurzen, westliche Vorbilder aufnehmenden DDR-Phase des chaotischen Free Jazz („wenn auch nicht aus der Ebene, die die dortige Gesellschaftsordnung trägt" 10)) ist zunächst Stabilisator und Katalysator für eigenständige, harmonisch-rhythmische Improvisationsverfahren und wird Mitte der 70er Jahre zunehmend auch Gegenstand ideologiekritischer Zerfledderung, die die plebejische Substanz allerdings unberührt lässt. Immer mehr wird der rationale musikalische Gestus angepeilt, der das Volkstümliche, das Triviale humorvoll trockengelegt.
Wie das? Ich fühle mich an Preußen und Heinrich Heine erinnert, an Kurt Tucholsky und die Weimarer Republik, wenn ich die Gumperts und Sommers spielen höre. 1979 auf dem New Jazz Festival in Moers: „Höhepunkt am letzten Tag ohne Zweifel die hintersinnigen Jazz-Juxereien des Ernst-Ludwig Petrowsky Oktetts (personengleich mit der Ulrich Gumpert Band) aus der DDR. Auf geistreiche Weise tiefgestapelt, wird da pompös falsches Lebensgefühl und viel betonierte Tradition zerblasen, dem angegrauten Preußentum in der Musik der Jazz-Garaus bereitet. Ein jazzvergnügtes Spiel gegen ästhetische Popanze und Etiketten, gegen hohle Autorität und aufgebauschte Banalität. Dem Schönberg/Eislerschen Begriff von der Wahrheit des musikalischen Gedankens wird hier der Weg in den Modern Jazz bereitet: Marsch und Walzer seziert und zerbröselt als nicht mehr brauchbare Phraseologie, ein endlos lichter Sonnenaufgang in C-Dur, der in Hoffnungscher Ironie nicht untergehen will und der wirklich einmal so maestoso gespielt wird, wie alle musikalischen Sonnenaufgänge und Aufklärungssignale der Musikgeschichte zusammen genommen." 11)
Das müssten übrigens die „Echos von Karolinenhof" gewesen sein.

IV Parodie und Verfremdung als ästhetische Verfahren im DDR Jazz
„Merkt ihr nichts, Leute….“
Erstes Beispiel (1973)
Eine Volksliedbearbeitung in der Suite „Aus teutschen Landen" fällt heraus: „Kommt ihr G'spielen" ist weder modal noch weist es rhythmische Besonderheiten für ästhetische Intrigen auf, die improvisatorisch einzufädeln wären. Die Melodie ist in D-Dur, strahlend, klar, in enger Kadenz, kaum zu variieren, nur zu reproduzieren. Ungebrochen steht es da, nur eine Kleinigkeit ist anders. Das Tempo ist barbarisch angezogen, das strahlende D-Dur erreicht eine blanke Heroik, eine starre Herrschaftlichkeit. Und genau hierum scheint es zu gehen, programmatisch: D-Dur, zwei Kreuze, der König ist tot, es lebe der König. Das Pathos abgelagerter Ideologie, das sich im Tonmaterial abgesetzt hat, bricht heraus, wird parodistisch so heraus geschlagen. Das Gewohnte ist fremd gemacht, der verstopfende Kloß beim Singen löst sich, auf Realität als Erfahrung und als zu Gestaltendes ist verwiesen. Brecht/Eisler nannten diesen ästhetischen Vorgang Verfremdung:
„….Verfremdungen sollten nur den gesellschaftlich beeinflussbaren Vorgängen den Stempel des Vertrauten wegnehmen, der sie bis heute vor dem Eingriff bewahrt.
Das lange nicht Geänderte nämlich scheint unänderbar. Allenthalben treffen wir auf etwas, das zu selbstverständlich ist, als dass wir uns bemühen müssten, es zu verstehen. Was sie miteinander erleben, scheint den Menschen das gegebene menschliche Erleben. Das Kind, lebend in der Welt der Greise, lernt, wie es dort zugeht. Wie die Dinge eben laufen, so werden sie ihm geläufig. (….) Damit all dies viele Gegebene ihm als ebensoviel Zweifelhaftes erscheinen könnte, müsste er jenen fremden Blick entwickeln, mit dem der große Galilei einen ins Pendeln gekommenen Kronleuchter betrachtete. Den verwunderten diese Schwingungen, als hätte er sie so nicht erwartet und verstünde es nicht von ihnen, wodurch er dann auf die Gesetzmäßigkeiten kam. Diesen Blick, so schwierig wie produktiv, muss das Theater mit seinen Abbildungen des menschlichen Zusammenlebens provozieren. es muss sein Publikum wundern machen, und dies geschieht vermittels einer Technik der Verfremdungen des Vertrauten."
(Bertolt Brecht) 12)
Auch die Musik und gerade die frei improvisierte kann diesen Blick auf schlechte und falsche Gewohnheiten provozieren, indem sie Musik als sozial unreflektierte Gewohnheit kritisiert. Das ist, je nach Auffassung von Musik, ein höchst brisanter, gesellschaftlicher Vorgang.

Zweites Beispiel (1974)
Auf The Old Song, gleich gegenüber von „Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht", findet sich das „Wiesenlied": Hornquinten und Fanfaren, dazu dumpfe Akkorde, alles in und um D-Dur herum. Und Sommer schlägt dazu, natürlich mit Pauke und klirrenden Becken, das Grundmuster des deutschen preußischen Marsches, das bis heute bei Schützenfest und militärischer Vereidigung aktuell ist:

Er trommelt es, trommelt es kaputt, auf geschundenen Becken, ein Blechtrommler bis zur Ermüdung.

Drittes Beispiel (1974)
Auf „Auf der Elbe schwimmt ein rosa Krokodil" gibt es ein „Take IV", vorher ein 22sekündiges „Petting zu, Take IV". Wie wird musikalisch gepettingt? Onomatopoetisch und strahlend natürlich. In Fanfaren-artiger Kadenz aufwärts: C-Dur/Cis-Dur/D-Dur.
Wie ist der preußische Orgasmus?
So wie eine gute deutsche Symphonie nach vollbrachter musikalischer Tat im Finale: zeremoniell, voll-akkordisch, im geraden, möglichst im Vier-Viertel-Takt - und natürlich in D-Dur. Was ist also dieses verdammte D-Dur. Vermutlich ein Kloß, der dem realen Fortschritt deutscher Kulturtradition im Halse steckt. Auf jeden Fall ist sie eine der beliebtesten Tonarten für volkstümelndes, helles, unbeschwertes Singen, eine strahlend optimistische Beschönigung.

Viertes Beispiel (1978)
„... jetzt geht's Kloß": Eine Tonalität wird zerhackt. Über grummelndem Basstriller schreitet sie in Quart-Akkorden abwärts d-des-c-h-b-a. Mit Pathos und an D-Dur geht die Welt zugrunde (die alte natürlich). Sommer trommelt sein Wumm-Wumm-/Wumm Wumm Wumm - und zertrümmert es verächtlich und liebevoll zugleich. Ein Stück Klavierstunde als anmontierter Kommentar. Tonleitern in Gegenbewegung hängen stupide, dilettantisch und schräg in der Luft, dazu schabende, scheuernde Becken.
Abschließend die Fanfare abwärts mit der Faust. Auf „Kloß II" (Rückseite) werden die aufmüpfigen Schüler-Tafel-Schmierereien zum musikalischen Happening: parodistische Geräusche des Schnarchens, Sägens, extrem hohe Klopf- und Klavierregister, Hörner, Rufen, Echo, nichts, - das Chaos hat den letzten Rest von inhaltlicher Assoziation aufgerieben.

„Es macht mir überhaupt mehr Spaß, einen Ton zu messen als ihn zu hören. Mit dem Schallmesser in der Hand arbeite ich gut gelaunt und sicher.
Was habe ich nicht schon alles gewogen und gemessen? Den ganzen Beethoven, den ganzen Verdi usw. Das ist schon sehr kurios.
Das erste Mal, als ich mich eines Phonoskops bediente, untersuchte ich ein B mittlerer Größe. Ich versichere Sie: nie habe ich etwas derart Widerwärtiges gesehen. Ich rief meinen Diener, um es ihm zu zeigen. Auf dem Ton Gewichtsmesser erreicht ein ganz normales Fis das Gewicht von 93 Kilogramm. Es stammte allerdings von einem sehr dicken Tenor, den ich gerade wog."
(Erik Satie) 13)
Wenn die Flügel der DDR und der Westberliner Free Music Production normal verstimmt sind, müsste der bevorzugte Ton der Gruppen um Gumpert das D sein: Als D-Dur-Akkord, als Dominant-Sept-Akkord (D7) und als Dominante zum blanken, feinen, beruhigenden G-Dur: „Gumpert improvisiert, indem er im ursprünglichen Wortsinn komponiert. er stellt zusammen, Erinnerungen, naive Motive, Sentenzen aus der Tradition, Volksliedintonationen, schon ein einfacher Quintgang genügt ihm. Für einen Dominant-Sept-Akkord gar braucht er (in der Zugabe) zehn Minuten Improvisationszeit. Gumpert wiederholt einmal Gefundenes ostinat, gibt kleine Ton-Gewürze hinzu, damit es gärt, seine musikalische Substanz hörbar wird. Er dreht und wendet es, zieht es hoch, klopft es auf, feilt es ab. Dazwischen Stocken, Pausen, Verblüfftsein über Wirkungen, auch satirische, wenn sie sich ergeben. Eine Gratwanderung zwischen harter Improvisationsarbeit und Clownerie, eine leichthändige Groteske." 14)
Die „Zugabe" ist auf der beiliegenden Plattenkassette zu hören als drittes Stück (Gumpert-Sommer-Duo). Tatsächlich führt es den D7 in seiner ausgelutschten, brüchigen Romantik vor, sogar mit der kleinen None: Inbegriff des hochgespannten, höchst privaten Gefühls, sich von der Realität zurückziehen zu müssen (bei Eisler gibt es einen ähnlichen kompositorisch-ideologischen Vorgang in seinen Chorstücken Opus 13 von 1928, wo sozialdemokratische Bieder-Chormänner die Kirchenglocken im verkürzten Dominant-Nonen-Akkord schwingen lassen).
Natürlich haben diese Verfahren auch viel mit Mengelberg, Bennink, Breuker zu tun, sind von der holländischen Jazzfoolsszenerie inspiriert.
Aber sie sind nur die intellektuellen Ziehväter, Gumpert und Sommer machen Eigenes daraus: das verdammte D-Dur, pathetisches Tremolo, Tonleitern, Klavierunterricht, die Weigerung, erwachsen zu werden, der Versuch, in der Rekonstruktion eines einfachen Akkordes zugleich dessen Destruktionskraft und die eigene, sozialpsychische Stabilität aus zuprobieren, die Torsen des eigenen Gewordenseins erschrocken und ironisch zur Kenntnis zu nehmen - das scheint dazu da, schwerfällig in der musikalischen Schwerfälligkeit zu wühlen, um - nach den Gesetzen der Sozialphysik psychische Leichtigkeit zu kreieren. „Ich empfinde es als unsinnig, Musik mit dem Rücken zu den Leuten spielen zu wollen. Warum sollte es nicht irgendwo auch einen Henkel geben, den man anfassen kann? (…..) Mit unserer Musik kann keiner etwas anfangen, der nicht selbst mit ihr etwas anfängt." 15)
Oder anders formuliert:
„Der Jazz sollte nicht zuletzt die Möglichkeit von Humor einschließen, womit nicht gesagt sein soll, dass jedes komödiantische Element humoristisch zu verstehen ist." 16)
Was zu zeigen ist.

Tango, Marsch und Walzer
Der Franzose Satie, dem es mehr Spaß machte, einen Ton zu messen als zu hören, dieser Satie kauzte sich zu Beginn des Jahrhunderts provokant durch die steife Ästhetik bürgerlicher Musik, forderte und praktizierte als Alternative zum dekadenten Endzeit Bewusstsein Musik als Einrichtungsgegenstand, lamusique d'ameublement.
Hörmusik, Einrichtungsmusik, die besaß die Bourgeoisie im Grunde schon, nachdem sie einst vom dritten Stand zur politisch-ökonomisch ersten Kraft aufzurücken sich anschickte, im Verlaufe des 19. Jahrhunderts das Volkslied lässig beiseite legte (oder zum hörgenießerischen Kunstlied stilisierte) und sich ein neues Vergnügen schuf: Walzer und (später) Tango für den privaten, Marsch und Symphonie für den öffentlichen Gebrauch. Auch im Jazz gab und gibt es solche Entwicklungen. Denn an sich ist er volkstümlich, deshalb auch Minderheiten-Musik; er ist es auch noch in seinen freiesten, am weitesten vorangetriebenen avantgardistischen Spitzen - eher jedenfalls als in den ästhetisch dumpfen Technologien, die in der Neuen Musik vorherrschen. Verlässt der Jazz die engagierte Minderheit, macht er Abstriche an den Kommerz, fängt er en masse zu swingen an, so beginnt er zu volkstümeln. Umso populärer, desto sprachloser wird die Stilform. So ist er geeignet für die sprachlose, ohnmächtige Masse. Swing, Brüderchen, swing.
„Bemerkenswert ist..., dass nach der Durchsetzung einer neuen Musizierform meistens eine Verflachung und eine Vermarktung einsetzte. Das ist in der Swing-Ära ebenso zu beobachten wie im Cool Jazz. - Auch in der Folge des Free Jazz gab und gibt es in dieser Hinsicht gefährliche Tendenzen, die ich als Ästhetizismus bezeichnen würde. Ich meine damit, dass sich die Musik nur noch aus sich selbst und nicht mehr aus ihrer Bezogenheit auf die Gesellschaft erklärt." 17)
Nachschlagen bei Eisler und wissen, was gemeint ist:
„Der Begriff, ‚Dummheit in der Musik' ist von der allgemeinen sozialen Dummheit abgezogen. (….) Für dumm halte ich, wenn das menschliche Denken hinter seiner Zeit, hinter seiner gesellschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben ist. (….) Zum Beispiel heben sich eben in der Musik noch Dummheiten auf - das ist das Erstaunliche - die die menschliche Gesellschaft in verschiedenen ihrer Klassen bereits liquidiert hat.
In der Musik existieren sie noch.
Selbstverständlich würde kein Bankier Gefühle und Gedanken haben, wie sie in der Musik noch vorkommen.
Oder ein Kommunist würde gewisse Gefühle und Gedanken nicht mehr haben, wie sie in der Musik vorkommen.
Das hat mit folgendem zu tun: Die Musik ist am weitesten entfernt von der Welt der praktischen Dinge. (….) Gerade durch ihre Entfernung von der praktischen Welt hat die Musik etwas Dumpfes, Archaisches.
Sie ist gewissermaßen der Brutherd der Dummheit." 18)
Auch in der DDR ist die Musik, sind die musikalischen Idiome, die Dummheit transportieren, scheinbar nicht auszumerzen. Eisler ist zu Ehren gekommen, aber nicht alle seine Einsichten sind dort medientragende Ansicht geworden.

Bevor man etwas parodiert, muss es porträtiert sein. Strawinsky fertigte einst, bevor die Alltagskunst in den zwanziger Jahren mit Verfremdungen vom hehren Kunstanspruch sich befreite, kleine Porträtskizzen von Ragtime und Tango, Walzer und Marsch an.
Was ist ein Tango? Petrowsky, Bauer, Koch, Winkler, fast alle mit Tanzmusik Erfahrung, versuchen sich 1973 (Just for fun) daran: ein spröde Skizze mit typischem Rhythmusmodell und knappstem Melodiebogen, um das Wesentliche zu kennzeichnen.
Dann aber:
Der Marsch: „Wiesenlied" auf The Old Song; „Take IV" auf Krokodil „Marsch, marsch" auf N' Tango für Gitti (hier mit allem Drum und Dran, sogar einem Trio); Stück Nr. 4 (Piccolo-Marsch) auf vorliegenden Platten vom Friedhelm Schönfeld Trio.
Der Walzer: „Aus Baby's Wunderhorn" und „Jubilee Suite" auf N'Tango für Gitti; „Hahnenkopf" auf Echos von Karolinenhof.
Der Tango: „Kloß I" auf . . . jetzt geht's Kloß; „n'Tango für Gitti" auf gleichnamiger LP.
Swing/Bebop: „Königskindisch" und „Jubilee Suite" auf N'Tango für Gitti; „Blaue Blusen Blues" auf Echos vom Karolinenhof.
(Kein Anspruch auf Vollzähligkeit, aber auf Repräsentativität).
„Es ist der verdammte Proteus-Charakter der Musik, der zur Idiotie einladet.
Sie brauchen nur Ihr Radio aufzudrehen zu einer x-beliebigen Tagesstunde, und Sie werden eine Fülle von Dummheit hören, die Sie, wenn Sie auch kein Musikkenner sind, als Dummheit erkennen werden. Da gibt es eine gewisse schäbige Lebensfreude, in Walzerform meistens, die sich in Musik ausdrückt. Da gibt es eine Art pseudomilitärisches Gehabe, das sich in Marschrhythmen ausdrückt. Da gibt es eine Art tiefsinnigen Schwulst - Brecht sagte immer: ,Das ist wie ein Mann, der Knödel nicht verdauen kann oder wie Bauchgrimmen' - die so genannten bedeutenden symphonischen Werke.
Das alles hat an sich keine echte Funktion mehr."
(Hanns Eisler) 19)

Formmodelle
Das zitierte Material, die bekannten Gesten des Tangos, Walzers, Marschs, Swings bleiben nie pur.
Natürlich gibt es zunächst das ästhetische Vergnügen, die gewohnten musikalischen Wendungen aus zu schrägen, zu übertreiben, sie aufzuputzen, um sie ihrer ideologischen Substanz zu entkleiden: Demontage, just for fun.
Das bliebe ein billiges Vergnügen, wenn es nicht reflektiert, musikalisch kommentiert würde. Drei Arten der Behandlung sind heraus hörbar:
- Beispiel: „Kloß 1" auf…jetzt geht's Kloß. Inmitten der Improvisation in Free-Jazz-Clustern taucht ein Tango-Motiv auf, so als drehe man zufällig, bewusstlos am Radioknopf:
Der Tango als eine der sprachlos gewordenen Musik -, als tote Kommunikationsformen, die sich wie eine musikalische Dummheit in der Tradition mitschleppen.
- Beispiel: „Hahnenkopf" auf den Echos von Karolinenhof. Der zitierte Gestus (selten sind es Original-Märsche, -Walzer, -Tangos etc.) wird als Improvisationsthema benutzt. Unschwer erkennbar als Ländler, transportiert es die volkstümelnd prästabile Harmonie, die pittoreske Beschaulichkeit des gemeinschaftlichen Ichs, das Sich-Wähnen in friedlicher Eintracht, die von der betonten „Eins" geklammert wird - eine sozial sich auch etwas vormachende Haltung. Auf sie - nicht auf die melodische Struktur des Themas wird in der Improvisation eingegangen, als sei sie konkrete Situation: blanker Optimismus und stockend kreischt man sich Wahrheiten zu. Vorsichtiges Schnattern und Gehacke der Bläser, Röhren, zunehmender Kampf (musikalisch als imitative Verdichtung). Brachiale Klavierschläge brechen los, harte Geräuschlinien der Bläser formieren sich, der falschen Beschaulichkeit wird der Hals umgedreht, keine Ruhe darf im Land herrschen: eine prägnante Eisler-Schlussformel erinnert nachhaltig daran.
Eine im Übrigen sehr typische Art der Improvisation, wie ich sie, so ausgebildet, bisher nur bei den DDR-Musikern gehört habe. Waren die Volkslieder noch fest und fixiert vorgegebenes Themenmaterial, so gibt es seit Mitte der siebziger Jahre die Tendenz, Gefühle, Situationen, inhaltliche Aussagen im musikalischen Themenmaterial eigenständig und konzentriert, wie in eine „Fabel", einzubringen und in der Improvisation die Gefühle und Situationen als soziale und private Haltungen gleichsam auszudeuten, sich an ihnen emotional abzuarbeiten. So sind „Krisis eines Krokodils", „Zweisam" und „Auf der Elbe schwimmt ein rosa Krokodil" (auf gleichnamiger LP) drei verschiedene Fassungen und zugleich drei verschiedene Aspekte des, über dem, unter dem, gegen das, in dem „Krokodil(s)".

- Beispiel: „Jubilee-Suite" auf N'Tango für Gitti. Es swingt und Swingt, als gelte es, Berendts Stil-Voraussagen rückwärts für die DDR zu erfüllen. Der Katzenjammer folgt vorwärts stehend auf dem anmontierten Fuße: ein Motiv aus Es-Moll-Terzen, das trauernd fällt und steigt, das endlos (genau 20mal) monoton wiederholt wird. Proklamatorische Direktheit und poetische Offenheit ist zusammenmontiert und das heißt, dialektisch darüber aufzuklären, dass auch in der DDR die Geschichte noch nicht ihren Schlusssatz geschrieben hat. Und ein angeschlossener langsamer Walzer ist auch eine Art von Beschönigung der Beschönigung. Hier springt also der Sinn nicht aus der verarbeitenden Improvisation, sondern aus der lapidaren Montage der verschiedenen Gesten.
Bei allen drei Formabläufen wird das Material „ausgeschöpft", seine ideologische Funktion kritisch herausgespielt, um es hochzuhalten und gleichsam an den Pranger des Free Jazz zu stellen. Keine bloße Collage also, nicht bloß Herumspielerei oder Volksbelustigung, Blödeln mit anderen, mit Jazzmitteln. Improvisation ist nicht freies Schweifen und Komposition nicht nur vor überlegter musikalischer Gedanke: So souverän der DDR-Jazz über tradiertes Material, über Schablone gewordene Musiksprachen verfügt, so konzentriert geht er mit den formalen und ästhetischen Mitteln um, erreicht Dichtegrade im Ablauf, die Parodie des Alten und ästhetische Emanzipation des Neuen gleichsam natürlich auseinander hervorgehen lassen.

„…mich vollständig mit Leib und Seele mitzuteilen, ist mir vorrangig im Free Jazz möglich. Unter Free Jazz verstehe ich hierbei eine Musizierform, die eine Vielzahl von Elementen umfasst, zum Beispiel auch Zitate oder Materialien älterer Stilrichtungen, gespielt mit den Erfahrungen, die man heute hat. Ich sehe also eine breite Skala von Möglichkeiten, derer man sich im Interesse einer Aussage bedienen kann. Es ist beispielsweise möglich zu singen, ohne die vier Viertel zu akzentuieren; man weiß dann - wie wir sagen - nicht mehr, wo die ,Eins' ist, und trotzdem swingt die Musik. Man kann auch eine Ballade verwenden, im konventionellen Sinne, oder was uns interessanter erscheint, indem man sie nur durchblicken lässt oder indem man sie allmählich auflöst, um schließlich zu neuen Qualitäten zu kommen. Das kann in einer Weise geschehen, in der man trotzdem mit den Erfahrungen dieser Ballade und ihrer Wertigkeit im Sinne des Jazz spielt. Schließlich kann man in einer Geräuschfläche ausbrechen, mit reiner Freude an der Turbulenz und zuweilen - primitiv formuliert - auch mit Spaß am Krach.
Durch eine Vielzahl von Spielvarianten bietet der Free Jazz meines Erachtens besonders günstige Möglichkeiten, sich zeitgemäß zu äußern." 20)

Anmerkungen
1 Bert Noglik und Heinz-Jürgen Lindner: Jazz im Gespräch, Berlin 1978, S. 46 (Gumpert).
2 Joachim Ernst Berendt: Ein Fenster aus Jazz, Frankfurt/M. 197B, S. 228-229.
3 Zitiert nach Rolf ReicheIt: Jazz in der DDR. In: Bulletin des Musikrats der  Deutschen
   Demokratischen Republik Nr. 2, 1979, S.3.
4 Martin Linzer: Festivals zwischen Ostsee und Erzgebirge.
   In: Neue Musikzeitung, Oktober/November 1978, S. 11.
5 Noglik/ Lindner, a.a.O., S. 52 (Gumpert).
6 ebd. S. 47 (Gumpert).
7 ebd. S. 50 (Gumpert).
8 Zitiert nach Rolf ReicheIt, a.a.O., S. 5.
9 Noglik/Lindner, a.a.O., S. 47 (Gumpert).
10 ebd., S. 117.
11 Jürgen Engelhardt: Big Band, Bebop und Bildungsmusik, Das 8. Internationale Festival
     New Jazz in Moers. In: Neue Zeitschrift für Musik, Heft 4, 1979, S. 395 und 396.
12 Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater, Gesammelte Werke Band 16, Frankfurt/M.
     1979, S. 68 1 - 63.
13 Erik Satie: Memoires d'un amnesique. In: Musikkonzepte 1
     1: Erik Satie, hg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, Edition Text und Kritik, S. 85.
14 Jürgen Engelhardt: Musik, die nicht rostet, Eine Übersicht des DDR-Jazz in der
     West-Berliner Akademie der Künste. In: Neue Zeitschrift für Musik, Heft 6, 1979, S. 666.
15 Noglik/Lindner, a.a.O., S. 182 (Sommer).
16 ebd. S. 181 (Sommer).
17 ebd. S. 53 (Gumpert).
18 Hans Bunge: Fragen Sie mehr über Brecht, Hanns Eisler im Gespräch.
     München 1972, S. 45.
19 ebd. S. 49.
20 Noglik/Lindner, a. a. O., S. 125 (Petrowsky).

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