FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 2009

FMP CD 135

Wolf Kampmann

 

Die Grenzen der Wahrnehmung stimmen höchst selten mit den Grenzen des Ausdrucks überein. Es fällt leicht, sich auf einen musikalischen Kontext einzulassen, in dem die Demarkationslinien zwischen den beiden Prinzipien zumindest parallel verlaufen. Denn dann wissen wir, was die Künstler uns sagen oder in uns auslösen wollen. Auf „Too Much Is Not Enough“ trifft das nicht zu.

Olaf Rupp, Marino Pliakas und Michael Wertmüller gehen weiter, als jedes Ohr erfassen könnte. Hören ist ein komplexes Bündel einer Vielzahl von Übersetzungen akustischer Signale in mehr oder weniger bewusste Eindrücke. Doch was, wenn unsere Filter viel zu durchlässig sind, um die Signale überhaupt aufzufangen? Oder wenn die Frequenz der Signale von Anfang an nicht mit der Wellenlänge der Antennen synchronisiert wird? In diesem Sinne scheint es, als wolle diese Musik gar nicht gehört werden, sondern das Ohr umgehen, um sich andere Wege der Übertragung zu suchen.

Die drei Signalquellen dieser Einspielung initiieren Klangzustände und -bewegungen, die sich nicht einfach aus drei akustischen Komponenten zusammensetzen, sondern wie ein kollektives molekulares Action Painting funktionieren. Es spielt dabei überhaupt keine Rolle, welcher Impuls von Schlagzeug, Bass oder Gitarre ausgeht. Es wäre auch zu einfach, diesen Prozess auf pure Energie zu reduzieren, die sich ausbreitet und beim Hörer wieder gebündelt wird. Sicher, die Abläufe klingen energetisch und setzen auf ihren Projektionsflächen Power frei. Und doch ist diese Klang-Genese so mikrobenhaft kleinteilig, dass der Energieaspekt sich komplett auflöst, je kleiner man den jeweiligen Ausschnitt wählt, der dann beliebig vergrößert werden kann. Hier erklingt ein Farnblatt, das sich systematisch und zuverlässig in sich selbst abbildet. Unabhängig von der Wahl der Vergrößerung findet man immer wieder dieselben Strukturen. Makro und Mikro bedingen und neutralisieren sich gegenseitig. Das lässt sich erklären, aber nicht begreifen.

Die Frage, ob es sinnvoll ist, ungenaue Phänomene wie Wolken, Baumkronen, fließende Gewässer oder den Stau auf einer Autobahn zu analysieren, in seine Mikrobestandteile zu zerlegen und in einer Formel greifbar zu machen, stellt sich nicht wirklich. Sinnvoll ist, was möglich ist. Was getan werden kann, wird getan werden, ganz egal ob es zweckmäßig, erlaubt oder ethisch vertretbar ist. Nein, die Frage muss ganz anders lauten. Ist es überhaupt möglich, einem Stück wie „Too Much Is Not Enough“ intellektuell oder sinnlich auf den Grund zu gehen? Wie weit kommt man hier mit musikalischen oder ästhetischen Kategorien?

Rupp, Pliakas und Wertmüller lösen Unbehagen aus, weil sie sich nicht an die Jahrtausende alte Übereinkunft zwischen Künstler und Publikum halten, abzubilden, was erfahrbar ist. Die intuitive Schöpfungsmacht des Künstlers gerät hier an Grenzen. Die Zustände dieser CD existieren jenseits der Fassbarkeit. Sie sind so bedrohlich wie all die anderen Phänomene, denen man mit reiner Ratio nicht beikommt. Und wie billig ist es, sich beim rational Ungreifbaren immer gleich ins Irrationale oder in die Metaphysik retten zu wollen. Vernunft – und in künstlerisch kreativer Hinsicht können wir das Sinnliche getrost im Reich der Vernunft ansiedeln, denn Wahrnehmung ist die Grundlage der Erkenntnis – beschreibt letztlich nur unsere eigenen individuellen und kollektiven Grenzen. Das Eigentliche, das, wofür es keinen Namen gibt, entsteht im Niemandsland zwischen Intuition und Rezeption. Dort, wo die Musik nicht mehr erdacht und noch nicht vernommen wird. Unsere Rezeptoren sind viel zu langsam, um diesem morphologischen Stadium zwischen Larve und Kadaver des Klanges gerecht zu werden.

Hier kommt der Ausdruck ins Spiel. Echte Expressivität lässt sich weder steuern noch kontrollieren. Sie lässt sich bestenfalls auslösen. Begrifflichkeiten wie Abstraktion oder Emotionalität greifen hier nicht mehr. Michael Wertmüller, Marino Pliakas und Olaf Rupp wissen genau, was sie tun. Sie überlassen nichts dem Zufall. Und doch tragen sie dem Umstand Rechnung, dass sie mit ihrem ganzen Wissen und Können, ihrem reichen spielerischen Erfahrungsschatz und ihrer visionären Begabung letztlich nur Trigger für ein Geflecht aus Prozessen und Zuständen sind, die sie zwar auslösen, in ihrer finalen, unfassbaren Konsequenz aber kaum beeinflussen und schon gar nicht kontrollieren können. Wir mögen Gestalt und Richtung eines Kunstwerks bestimmen können, ihre Dimensionen unterhalb des Formalen entziehen sich unserer Kontrolle. Wo der Ausdruck sich über den Willen und mit ihm über die Form hinwegsetzt, wird die Diktatur der Dimension in der Kunst überwunden. „Too Much Is Not Enough“ – treffender könnte man es schwerlich formulieren.

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