FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 2009

FMP CD 134

Thomas Millroth

 

Gefühl und Melodie

Blindlings heisst es wenn man ohne Augen sieht. Das Bekannte wird auf’s Neue entdeckt, ist im Grunde niemals gleich. Die Musik geht nicht vorwärts, stolpert mehr blindlings. Das ist der einzige Weg Neues zu erfahren. Darin war Peter Brötzmann immer mutig. Modernist im herkömmlichen Sinne war er kaum je. Trotzdem veränderte er mehrmals die Musik. Man könnte sagen, er verteidigte sie. Im Jahre 2006 hat Brötzmann schon eine lange Geschichte hinter sich. Ich erkenne seinen Ton. Nicht immer aber, wie die Töne verbunden werden. Seine Materie ist veränderlich wie eine ständig bearbeitete Form aus Ton. Eine gewisse Art Mut gehört dazu. Es war angesagt in der improvisierten Musik – wie in der abstrakten Kunst – keine Melodien zu spielen, keine Geschichten zu erzählen. Brötzmanns Musik war immer voller Melodien. Fragmentarisch, gemischt, von der ganzen Welt gefärbt, aber immer wie leise Erzählungen, die trotz der Lautstärke geflüstert wurden.

Die Melodien haben sich verändert. Mag sein, sie waren Fragmente. Wie diejenigen von Novalis. Heute sind diese Bruchstücke noch vorhanden, bearbeitet und gegliedert. Mehr synthetisch, könnte man behaupten. Das ist eine interessante Linie, weil heutzutage immer häufiger Melodie und Improvisation zusammengelenkt werden. Brötzmann hat das immer so gemacht. Warum? Seine Musik hat ganzheitlich mit ’Gefühlen’ zu tun. Deshalb hat er sich nicht der Sentimentalität verweigert. Er hat ihr eine neue, echtere Bedeuteung gegeben. Von der Oberfläche ist er zu dem Kern gegangen.

Peter Brötzmann ist ein altmodischer Modernist, was vor dreissig Jahren unmöglich zu schreiben gewesen wäre. Aber auch damals war er (so) einer, obwohl man damals entweder altmodisch oder modernistisch war. Der Modernist war gegen das Establishment, d.h. das Altmodische. Heute ist es nicht mehr so. Statt dessen wird vom ’Postmodernismus’ gesprochen. Oder von der ’Zeitgenössischen Kunst’. Und was bedeutet das? Das die Kunst und Musik den Takt der Zeit halten. Es gibt keine Kunstrichtungen mehr, nur ’Trends’. Der altmodische Modernist bietet dem Konformismus den Stirn. Banalität hat keinen Platz in der Musik von Peter Brötzmann. Er befreit die Musik von der Gewohnheit. Immer wieder.

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