FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 2008

FMP CD 132

Wolf Kampmann

 

Der Augenblick ist die Ewigkeit

Was anfangen mit dem Augenblick? Jenem letzten Mysterium, das uns neben der Ewigkeit geblieben ist. Der einzigen Zeiteinheit, die nicht messbar, sondern ausschließlich fühlbar ist. Ganz im Augenblick sein, gehört zu den im Jazz am häufigsten gebrauchten Floskeln. Musiker geben vor, sich in der Improvisation mit dem jeweils konkreten Zeitpunkt des Spiels zu vereinen. Nicht, dass das nicht möglich wäre, doch dazu muss man die ganze Magie des Augenblicks erfassen. Sich nicht einfach dem Zufall überlassen, sondern den chronologischen Mikrokosmos in seiner ganzen Ausdehnung erfassen. Den richtigen Moment festhalten, ist ein weiterer Gemeinplatz, dessen sich improvisierende Künstler gern bedienen. Der Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens war sich schon Goethe bewusst, als er Faust ausrufen ließ: „Zum Augenblicke dürft ich sagen, verweile doch, du bist so schön!“

Peter Kowalds „Open Secrets“ besteht aus Augenblicken. Die Länge von 40 Minuten und 57 Sekunden ist ein statistischer Hinweis ohne Belang. Kowald gelingt das nahezu einmalige Kunststück, den Augenblick nicht nur wahrnehmbar zu machen, sondern ihn in neun Zuständen für die Ewigkeit zu dokumentieren. Für den Bassisten selbst war jener Tag 1988 ein spezieller Augenblick. Die CD ist eine punktgenaue Rekonstruktion der Aufnahmesituation, und doch entsteht sie bei jedem Hören neu. Zeit dehnt sich aus oder wird komprimiert, Licht und Schatten der Klänge verteilen sich unterschiedlich, das Verhältnis von Tiefgang und Oberfläche variiert. Meditiert Kowald in einem ausgedehnten Monolog? Hält er Zwiesprache mit sich selbst oder seinem Instrument? Verarbeitet er Erlebtes oder erfindet er spontan? Wer wollte das heute noch beantworten? Bei jedem Hören wird man neue Antworten finden.

1988 sollte ein gutes Jahr für Peter Kowald werden. Er war unentwegt unterwegs, hatte mit seinem Kontrabass Reisen nach Japan, Indien, Neuseeland und New York hinter sich gebracht und würde im Sommer zur Eröffnung der olympischen Spiele in Seoul vor 120.000 Zuhörern spielen. Davon wusste er womöglich noch nichts, als er im Januar in Berlin „Open Secrets“ aufnahm, doch er war vollgepumpt mit Inspiration. Seine den Bass wie eine Geliebte umklammernde Gestalt gehört zu den unverwechselbaren Silhouetten des Jazz, wie auch der Scherenschnitt der gekrümmten Figur von Miles Davis. In seiner innigen Umarmung mit dem Bass waren seine Sensoren dennoch stets auf Empfang geschaltet. Auf seiner weltumspannenden Spurensuche griff er überall Kleinigkeiten auf und verleibte sie seinem Vokabular ein. Auf „Open Secrets“ ist er ganz mit sich allein und teilt den jeweiligen Augenblick auch nach Jahrzehnten nur mit dem aktuellen Zuhörer. Er liebte es, mit Tänzern, Sängern, Malern und Poeten zusammenzuarbeiten, und er vereinte diese kreativen Obsessionen geradezu in sich selbst. Darüber hinaus war er Philosoph, Eremit, Ikonoklast, Priester, Welt- und Zeitreisender. Um all dies in seiner Kunst zu offenbaren, genügte Peter Kowald allein sein Bass.

„Der Augenblick ist die Ewigkeit“, um Goethe noch einmal zu zitieren. „Open Secrets“ ist viel mehr als ein zufälliger Ausschnitt aus dem unendlichen Kontinuum frei improvisierter Klanggeschichte. Diese in ihrer Vollkommenheit einmaligen Bassskulpturen heben die Unumkehrbarkeit der Zeit und die Endlichkeit ihrer Einheiten ein für alle Mal auf. Der tiefe Widerhall von Kowalds Bass – und im letzten Stück des Albums auch seiner Stimme – drückt eine schöpferische Ruhe und Gelassenheit aus, die den Augenblick fernab jeder Esoterik in die Unendlichkeit ergießt. Die große Leistung des Wuppertalers besteht darin, seine Sprache im besten Sinne Ornette Colemans über jedes Idiom zu stellen und die Intentionen des Free Jazz genauso auf Distanz zu bringen, wie die Errungenschaften der Musikkulturen aller Kontinente in Nähe zueinander. Der Augenblick an sich kann nur frei sein, denn er kennt kein Bezugssystem. Erst in ihrer Messbarkeit wird die Zeit zur Koordinate von Leistung. „Open Secrets“ ist eins der ganz wenigen Dokumente, die die Freiheit des Augenblicks mit Hingabe, Konsequenz und Überzeugung zelebrieren.

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